Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
konnten.
Unser zweiter Gang führte zum CLSC* , der für sozialmedizinische Belange zuständig ist. Eine Sozialarbeiterin bat uns, Anträge für eine vorläufige Krankenversicherung und für Sozialhilfe auszufüllen. Von ihr erhielten wir auch Lebensmittelgutscheine. Pro Tag standen uns zehn Dollar zu. Ich musste also reichlich Phantasie walten lassen, um die ganze Familie satt zu bekommen, aber wie klein war dieses Problem im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die wir schon bewältigt hatten.
Die Tage vergingen wie im Fluge, das Monatsende rückte näher. Erneut wandte ich mich an die für uns zuständige Mitarbeiterin in der Einwanderungsbehörde und fragte sie um Rat. Sie nannte mir einen gemeinnützigen Verein, der Ausländer bei der Wohnungssuche unterstützt. Vielleicht konnte man mir dort weiterhelfen, auch wenn ich noch kein Einkommen hatte.
* Centre Local de Services Communitaires
Melissa begleitete mich dorthin. Isa, die Leiterin des Vereins, empfing uns freundlich. Ich umriss unsere Situation in aller Kürze, doch sie fragte ganz präzise nach.
»Wann müssen Sie umziehen?«
»Ich muss die Wohnung übermorgen verlassen.«
»Gut, dann müssen wir rasch handeln.«
Nun rief Isa eine Freundin namens Nathalie an, die in einem Frauenhaus in Lachine arbeitete, einem westlichen Vorort von Montréal.
»Diese sechsköpfige Familie braucht eine Unterkunft, wo sie auf die Zahlung der Sozialhilfe warten kann, um dann nach einer richtigen Wohnung zu suchen.«
Sie nannte alle möglichen Argumente, aber es schien nicht so leicht, ihre Gesprächspartnerin zu überzeugen. Doch plötzlich erhellte sich ihr Gesicht, und sie hob triumphierend den Daumen. Nachdem sie ihrer Freundin gedankt hatte, gab sie mir genaue Auskünfte über unsere zukünftige Bleibe.
»Nathalie arbeitet in einem Frauenhaus, in dem misshandelte Frauen und Kinder Zuflucht finden. Da bald Weihnachten ist und Sie Kinder haben, brachte sie es nicht übers Herz, Sie zurückzuweisen. Sie erwartet Sie morgen. Außerdem hat sie mich nach dem Alter der Kinder gefragt, möglicherweise wegen der Weihnachtsgeschenke.«
Da brach ohne jede Vorwarnung die ganze angestaute Wut aus Melissa heraus. Sie sprang auf und schrie mich an:
»Ich werde nicht in dieses Haus gehen! Ich will nie wieder in einer Notunterkunft oder einem Hotel wohnen. All deine Anstrengungen waren nutzlos, Mama. Wir kommen keinen Schritt weiter. Ich werde nach Hause, nach Algerien zurückgehen! Ich will in meinem Bett schlafen und in meinem Haus wohnen! Nie wieder gehe ich in eine Notunterkunft! Ich kann nicht mehr!«
Damit begann sie hemmungslos zu schluchzen.
Ich schloss sie ganz ruhig in meine Arme und wartete, bis sie sich wieder etwas gefasst hatte. Dann erklärte ich ihr, dass sich ein Frauenhaus in keiner Weise mit einer Obdachlosenunterkunft vergleichen ließ. Ich wiederholte, dass es sich nur um eine vorübergehende Lösung handelte und sich alles finden würde.
Ich weiß nicht, ob meine Worte oder meine gelassene Reaktion ihren Zorn dämpften, doch allmählich versiegten die Tränen meiner Tochter. Die Arme war so sensibel, dass sie die ganzen Umzüge einfach nicht mehr verkraftete. Aber schließlich rang sie sich sogar dazu durch, Isa für all ihre Mühe zu danken.
Isa gab mir die Adresse des Frauenhauses. Am nächsten Tag würde jemand unser Gepäck abholen, während wir selbst mit dem Bus dorthin fahren mussten.
Auf dem Rückweg zur Wohnung malte ich mir die negative Reaktion der Zwillinge aus, wenn sie erfuhren, dass wir morgen umziehen würden. Ich gab mir alle Mühe, ihnen den Unterschied zwischen der Notunterkunft in Frankreich unddiesem Frauenhaus zu erklären. Umsonst! Die Zwillinge begannen zu weinen, und auch Zach schluchzte los. Sie wollten die Wohnung nicht verlassen, in der sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein wenig zu Hause gefühlt hatten. Die Jungen liebten es, in der Küche auf dem Fußboden zu sitzen und ihrer Mama beim Kochen zuzusehen. Wie sehr mussten ihnen solche Erfahrungen in der Vergangenheit gefehlt haben!
Am Ende fand sich die ganze Familie damit ab, noch einmal für eine begrenzte Zeit in dieser Unterkunft zu leben, bevor wir eine Wohnung bekämen. Niemand war begeistert darüber, aber jeder nahm es hin, auch Melissa.
Am nächsten Morgen standen wir sehr früh auf, um die Wohnung zu putzen und sie genauso sauber zu verlassen, wie wir sie vorgefunden hatten. Da wir noch zehn Dollar übrig hatten, kaufte ich einen Blumenstrauß
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