Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Paris. Aber wir stammen aus Algerien. Und Sie?«
»Ich bin aus dem Libanon, aber ich lebe schon seit zehn Jahren hier. Willkommen in Kanada! Wo soll ich Sie hinbringen, Madame?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Fahren Sie uns zu dem billigsten Hotel, das Sie kennen.«
»Was soll das heißen? Haben Sie denn keine Familie hier?«
»Nein, wir kennen niemanden! Leider! Ein bescheidenes Hotel wäre uns im Moment das Liebste!«
»In Montréal sind Hotels sehr teuer, vor allem mit Kindern!«
»Wie teuer denn ungefähr?«, wollte ich beunruhigt wissen.
»Was können Sie denn ausgeben?«
»Höchstens zweihundert Dollar.«
»Das können Sie vergessen! Aber mein Bruder ist gerade für einen Monat in Urlaub und hat mir seine Wohnungsschlüssel überlassen. Da Sie und Ihre Kinder vertrauenswürdig aussehen, werde ich Ihnen helfen. Wir Araber müssen zusammenhalten.«
Dieses Angebot schickte uns der Himmel gerade im richtigen Augenblick.
»Mir ist klar, dass Kinder sich bewegen müssen, aber ichbitte Sie, nichts in Unordnung zu bringen oder zu beschädigen. Ich gehe das Risiko ein, doch ich möchte es nachher nicht bereuen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Monsieur. Ich werde gut aufpassen. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken für Ihre Hilfsbereitschaft.«
»Das tue ich gerne. Ich habe selbst drei Kinder und weiß, wie schwierig solche Veränderungen für sie sind. Als ich hier ankam, wäre ich auch froh gewesen, wenn mir jemand geholfen hätte.«
Sein Blick wanderte von einem Kind zum nächsten, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sicher war er ein guter Familienvater.
Somit war die Frage der Unterkunft zumindest vorläufig geregelt. Ich blickte aus dem Fenster. Alles wirkte ganz anders als in Algerien oder Frankreich. Die Straßen waren hier viel breiter, und die Menschen brauchten eine ganze Weile, um sie zu überqueren. Die Häuser waren niedriger und ließen mich an amerikanische Filme denken. Nirgends war die Aussicht versperrt, und so konnte der Blick immer wieder in die Ferne schweifen … Endlich hatte ich das Gefühl, frei atmen zu können.
Unser Fahrer brachte uns in eine Stadt namens Saint-Hubert. Das Taxi hielt in einer Straße mit Häusern, die einander allesamt sehr ähnelten. Als der Mann uns die Tür zu einer Wohnung im ersten Stock aufschloss, stürmten die Zwillinge neugierig hinein, um ihre neue Bleibe zu erkunden. Norah hatte gerade noch Zeit, ihnen zu erklären, dass dies hier noch nicht unser Zuhause war.
»Wann werden wir endlich unser Haus haben?«, wollte Elias wissen.
»Bald, sehr bald«, antwortete Norah.
Nach der Besichtigung der Wohnung klärte uns unser Wohltäter über die Gegebenheiten des Viertels auf.
Als Dank für seine Gastfreundschaft schenkte ich ihm eine kostbare Vase, die mich seit unserem Aufbruch aus Algerien begleitete. Zu meiner Freude nahm er das Geschenk an. Dann gab er mir seine Karte und die Wohnungsschlüssel.
»Sie können vier Wochen hier wohnen. Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendetwas benötigen. Hoffentlich können Sie die Aufnahmeformalitäten rasch hinter sich bringen. Ich werde mich ab und zu melden, um zu hören, wie es Ihnen geht. Ende des Monats hole ich die Schlüssel wieder ab.«
Am Abend kaufte Melissa ein paar Lebensmittel bei der nächsten Tankstelle: Käse, Brot und Bananen. Ich hatte keine Ahnung von den Lebenshaltungskosten in Montréal.
»Ich schätze, hier kommen wir nicht besonders weit mit zweihundert Dollar.«
»Warum glaubst du das, Melissa? Findest du, dass das Leben hier teuer ist?«
»Ich habe die Preise nicht mit denen in Frankreich verglichen, aber ich sehe einfach, wie viel wir bereits ausgegeben haben. Wir können uns noch weniger leisten als früher.«
Schon hatte Melissa einen neuen Anlass zur Sorge gefunden. Ich hingegen war so stolz auf das, was wir erreicht hatten, dass mir der Gedanke an unsere begrenzten finanziellen Mittel wie eine Lappalie erschien.
»Mach dir keine Sorgen, Melissa. Alles wird sich finden, du wirst schon sehen.«
Obwohl wir sehr müde waren, fanden wir erst spät Schlaf. Lag es an der Zeitverschiebung? Gewiss! Lag es an der Freude, in einer so komfortablen Wohnung gelandet zu sein? Gewiss! Es gab so viele Gründe, warum wir nicht einschlafen konnten!
Zwei Tage später, am Montagmorgen, begaben wir uns zur Einwanderungsbehörde. Nachdem wir die Formulare für unseren Asylantrag ausgefüllt hatten, gab uns der Beamte eine ganze Reihe von Adressen, die für uns hilfreich sein
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