Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
während Norah an den Schalter trat. Die Beamtin kontrollierte ihren Pass, dann bedeutete sie mir, näher zu treten. Sie fragte nach unseren verwandtschaftlichen Beziehungen.
»Wir sind entfernte Cousinen, Madame.«
»Wo ist der Vater des Kindes?«, wollte sie dann von Norah wissen.
»Valentin kennt seinen Vater überhaupt nicht.«
»Aber er trägt doch den Namen seines Vaters, oder etwa nicht?«
»Ja. Doch der Vater hat uns kurz nach der Geburt seines Sohnes verlassen.«
Norah beeindruckte mich zutiefst. Wie gelang es ihr nur, aus dem Stegreif eine so glaubwürdige Geschichte zu erfinden, obwohl sie einem solchen Druck ausgesetzt war?
Die Beamtin und Norah verhandelten weiter miteinander. Da ich wieder ein Stück zurückgetreten war, konnte ich nichts mehr von ihrer Unterhaltung verstehen. Dann winkte Norah mich zu sich.
»Könntest du bitte Valentin holen, Sabine?«
»Natürlich, Karine, ich bin gleich wieder da.«
Jetzt bot sich die Gelegenheit, heikle Fragen wegen Valentins Alter zu umgehen. Elias musste die Rolle seines kleinen Bruders übernehmen!
»Elias, ich brauche dich! Komm schnell her, mein Liebling! Die Spielregeln haben sich geändert! Jetzt bist du Valentin und sechs Jahre alt. Deine Mama ist Norah, die jetzt Karine heißt. Hast du alles verstanden?«
»Warum denn? Zach heißt doch Valentin! Wir hatten doch abgemacht, dass er eine Krankheit hat, die sein Wachstum verhindert.«
Es war ein furchtbarer Augenblick. Alles hing nun von Elias ab!
»Nein, mein Liebling. Vergiss das alles. Jetzt bist du Valentin, und deine Mutter heißt Karine. Du bist sechs Jahre alt, und ich bin deine Tante, eine Cousine deiner Mama. Deinen Vater kennst du nicht. Nur Mut, mein Großer! Jetzt gehen wir zu deiner Mama!«, beschwor ich ihn und zwinkerte ihm aufmunternd zu.
Als Norah Elias anstelle von Zacharias auf sich zukommen sah, huschte ein leichtes Erstaunen über ihr Gesicht, doch sie fing sich sofort wieder. Offenbar hatte sie den Grund für diesen Wechsel erkannt.
»Komm näher, mein Junge«, forderte die Zollbeamtin ihn auf. »Wie heißt du?«
»Ich heiße Valentin, Madame.«
»Guten Tag, Valentin. Wie heißt deine Mama?«
»Meine Mama ist dort. Sie heißt Karine.«
»Und dein Papa, wo ist der?«
»Keine Ahnung. Ich kenne ihn nicht.«
»Was willst du in Kanada tun, Valentin?«
»Wir möchten hier Ferien machen. Ich würde gerne Schnee sehen.«
»Dafür ist es noch ein wenig früh, aber du wirst sicher viel Spaß an Halloween haben. Schöne Ferien, Valentin.«
Die Zollbeamtin gab Norah die Papiere zurück und wünschte ihr einen angenehmen Aufenthalt in Kanada.
Melissa wartete sehnsüchtig darauf, dass wir aus dem Büro herauskamen. Als sie uns entdeckte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.
»So, Kinder, jetzt holen wir unser Gepäck, und dann informieren wir uns über die Formalitäten für den Antrag auf Asyl – so wie Redwane es uns geraten hat.«
Er hatte uns gesagt, dass die Neuankömmlinge diese Informationen direkt am Flughaften erhalten konnten und dass es eigens für diesen Zweck ein Telefon gab.
Über dem Apparat stand angeschlagen: »Wenn Sie irgendeine Frage haben, dann können Sie sie hier stellen.« Ich griff nach dem Hörer, und ein paar Sekunden später meldete sich eine Männerstimme.
»Guten Tag, womit kann ich Ihnen dienen?«
Ich schilderte ihm unser Problem.
»Kommen Sie am Montagmorgen in die Einwanderungsbehörde von Québec. Dort wird man Ihnen weiterhelfen. Willkommen in Québec und viel Glück, Madame!«
Willkommen in Québec! Bei diesen schlichten Worten wurde mir richtig warm ums Herz. Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben hieß mich jemand irgendwo willkommen!
Endlich waren wir am Ziel! Welche Hoffnungen setzten wir in dieses Land!
Als wir den Flughafen verließen, fröstelte ich, denn es war kälter als in Frankreich. Wir zogen unsere Jacken an.
Ich holte tief Luft und sog begierig die neuen Gerüche ein.
»Was für ein Abenteuer! Ich bewundere euch, Kinder! Bravo, Elias! Du bist ein Held!«
»Ist das Spiel jetzt zu Ende? Können wir uns wieder mit unseren richtigen Namen anreden?«, wollte Ryan wissen.
»Ja, mein Liebling! Wir können Valentin, Samy und Sylvain Adieu sagen. Sie haben uns dabei geholfen, nach Kanada zu gelangen!«
18. Willkommen in Kanada
Vor dem Flughafengebäude rief ich ein Taxi. Da es ein Kleinbus war, fanden wir diesmal alle in einem einzigen Wagen Platz.
»Woher kommen Sie?«, wollte der Fahrer wissen.
»Aus
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