Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
für meine Wohltäter. Neben die Vase legte ich einen kleinen Brief mit unserer neuen Adresse.
Später erschien der Mitarbeiter des Frauenhauses, um unser Gepäck mitzunehmen. Ich legte den Wohnungsschlüssel an die mit dem Taxifahrer vereinbarte Stelle; dann brachen wir auf. Nach einer kurzen Atempause waren wir erneut unterwegs. Würde dieses Nomadenleben jemals enden? Das versicherte ich den Kindern pausenlos, und doch wusste ich keine Antwort auf diese Frage. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, dass wir ein Zuhause finden würden, wo meine Familie glücklich und ungestört leben konnte!
Mit der Zeit hatte ich gelernt, nicht auf Wunder zu warten, das jeweils Gegebene zu akzeptieren und dennoch auf ein besseres Morgen zu hoffen. Jeden Tag dankte ich dem Himmel, dass er mich davor bewahrt hatte, noch tiefer zu fallen. Die Reisen und Umzüge hatten mich gelehrt, mich über unverhoffte Kleinigkeiten zu freuen, die mir immer wieder neuen Mut einflößten.
Mehrmals mussten wir vom Bus in die Metro und anschließend wieder in einen anderen Bus umsteigen. Das letzte Stück des Weges legten wir zu Fuß zurück. Es war noch eine recht weite Strecke, und zu allem Übel hatte es zu schneien begonnen. Ein scharfer Wind blies, und unsere Jacken waren zu dünn für derartig eisige Temperaturen. Wir versuchten die Jungen so gut wie möglich gegen Wind und Schnee zu schützen. Unsere erste Begegnung mit diesem weißen Element war äußerst unerfreulich. Die Kleinen waren völlig durchgefroren und am Ende ihrer Kräfte.
Als wir das Frauenhaus erreicht hatten, traten wir ohne Aufforderung ein, denn uns allen war furchtbar kalt. Eine blonde junge Frau empfing uns freundlich.
»Nur herein, Kinder! Wärmt euch auf! Ich bin Josée und heiße euch hier willkommen!«
Ich stellte ihr meine Familie vor.
»Sie müssen sehr erschöpft sein. Kommen Sie mit! Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer und alles Übrige.«
Im Gegensatz zu den vorigen Unterkünften – mit Ausnahme der Wohnung – gefiel es uns hier auf Anhieb. Unser Zimmer war riesengroß, sauber und geschmackvoll eingerichtet. Es gab alles, was wir brauchten, sogar altersgerechtes Spielzeug für die Kleinen.
Außer Melissa, die sich abseits hielt, fühlten sich die Kinder rasch heimisch.
Dann trafen wir mehrere Frauen verschiedener Nationalität mit ihren Kindern, die mir alle sympathisch waren. Mit einer Pakistanerin und einer Kanadierin aus Québec schloss ich sofort Freundschaft.
Am Abend aßen wir Pizza, die einige Bewohnerinnen zubereitet hatten. Reihum wurden alle zum Saubermachen und zum Kochen eingeteilt. Auf diese Weise lebte man sich rasch ein und fühlte sich ein wenig zu Hause.
Nach ein paar Tagen hatten wir auch die Leiterin und die übrigen Mitarbeiterinnen kennengelernt. Alle behandelten uns sehr freundlich und trugen so dazu bei, dass wir uns wohl fühlten. Mit zweien von ihnen, France und Caroline, freundete ich mich rasch an, denn wir hatten viele Gemeinsamkeiten.
Die Mahlzeiten berücksichtigten Wünsche und Vorschläge der Kinder, sodass diese gerne aßen, was auf den Tisch kam. Ein unvorhergesehenes Ereignis hatte zur Folge, dass auch Melissa ein wenig auftaute. Eines Abends fragte Chloé, eine Mitarbeiterin des Frauenhauses, ob sie mit ihr einen Tanz lernen wolle. Melissa tanzte für ihr Leben gern, und so übten sie gemeinsam die Schritte zu einem algerischen Musikstück ein.
Weihnachten und Neujahr feierten wir im Kreis unserer neuen Großfamilie. Die Kinder waren so glücklich wie schon lange nicht mehr. Jedes von ihnen bekam ein Geschenk. Diese Aufmerksamkeit rührte mich zutiefst, denn ich selbst war nur selten beschenkt worden.
Schritt für Schritt ging es aufwärts. Als die Weihnachtsferien zu Ende gingen, konnten Melissa und die Zwillinge sich in der Schule anmelden. Die Jungen gingen in die Vorschule, während Melissa eine weiterführende Schule besuchte. Und ich kümmerte mich um meine täglichen Aufgaben im Frauenhaus.
In der Familie, in der ich aufgewachsen war, hatte man materiellen Werten große Bedeutung beigemessen. Verläuft das Leben in normalen Bahnen, so ist es für die meisten Menschen offenbar ganz natürlich, stets nach mehr Besitz und sozialem Aufstieg zu streben. Aber wenn man nichts mehr hat, freut man sich über jede Geste, jede Aufmerksamkeit oder jedes noch so kleine Glück. Mein Aufenthalt in diesem Frauenhaus hat mich viel über menschliche Werte und solidarisches Verhalten gelehrt. Während ich mich einst vergeblich nach der
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