Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Rhythmen unserer alten Heimat. Selbstvergessen wiegte ich mich im Takt der Musik, ohne mich auch nur ein einziges Mal hinzusetzen. Ich ließ meinen Empfindungen freien Lauf; alleSorgen waren wie fortgeblasen. Nie zuvor hatte ich mich auf diese Weise amüsiert. Anfangs war Melissa erstaunt, mich so tanzen zu sehen, aber bald folgte sie meinem Beispiel.
Es war schon nach Mitternacht, als wir völlig erschöpft an die frische Luft gingen und uns auf den Rückweg machten. Die Straßen waren friedlich und gleichzeitig belebt: ein paar Passanten, die dahinschlenderten oder eilig nach Hause strebten, ein eng umschlungenes Liebespaar, eine Gruppe grölender Jugendlicher. Mitten in der Nacht war ich eine von vielen. Ich fühlte mich wohl, sicher und vor allem frei!
Als wir einen breiten Boulevard überquerten, blieb ich in der Mitte stehen, um die riesigen Wolkenkratzer mit ihren erleuchteten Fenstern vor dem schwarzen Himmel zu betrachten. Was für ein Glück war es, mitten in der Nacht unterwegs sein zu können, ohne Angst, ohne einem Ehemann, Vater oder Bruder Rechenschaft schuldig zu sein … Was für ein Glück, einfach hier sein zu können, ohne dass jemand von Schande sprach oder mein Tun missbilligte!
Ich fühlte mich so frei, dass ich es der ganzen Welt hätte entgegenrufen mögen:
»Seht her! Ich gehe mitten in der Nacht durch die Straßen von Montréal und trage ein hübsches Kleid!«
In dieser Stadt war es kein Verbrechen, ein Kleid zu tragen. Es war völlig normal. Immer wieder denke ich daran, wie ich mich mitten auf der Straße glückselig im Kreis drehte. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich zugleich schön und frei.
»Mama, komm von der Straße. Am Ende wirst du noch angefahren!«, schimpfte Melissa und zog mich am Arm.
»Wenn ich jetzt angefahren werde, kann ich wenigstens glücklich sterben.«
»Sag so etwas nicht! Gib niemals auf, alles wird sich finden. Denk an die Worte, die du mir so oft gepredigt hast! Wir brauchen dich.«
Die Erinnerung an diesen wundervollen Abend in den Straßen von Montréal erscheint mir wie ein Märchen, und ich bewahre sie tief in meinem Herzen. Diese einfache Unternehmung mit meiner Tochter gab mir einen Vorgeschmack auf die Freiheit, in der wir nun leben sollten. Ich hatte den richtigen Weg eingeschlagen, auch wenn er lang und beschwerlich gewesen war. Jetzt sah ich das Ziel, das meine Schritte in den vergangenen Jahren bestimmt hatte, unmittelbar vor mir: die Freiheit – dieses unschätzbare Gut, das den Frauen aller Kulturen zuteil werden muss!
Ob die Frauen in freien Ländern um ihr Glück wissen? Das bezweifle ich, denn man muss erst einmal der Freiheit beraubt sein, um ihren wahren Wert ermessen zu können.
Für ein paar Stunden hatte ich meine Sorgen vergessen und alle düsteren Gedanken verscheuchen können. In dieser Nacht schlief ich tief und fest, ohne mich um den nächsten Tag zu sorgen, der trüb aussehen mochte!
19. Meine zweite Geburt
Als ich am nächsten Morgen endlich aufwachte, war ich ziemlich benommen, doch die Vorladung auf meinem Nachttisch holte mich rasch wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich las sie ein weiteres Mal durch.
Kurz darauf meldete sich meine Anwältin und bestellte mich gemeinsam mit Norah zu sich, um meine Akte auf den neuesten Stand zu bringen.
Ihre Erfahrungen ließen sie zu dem Schluss kommen, dass unsere Chancen bei dreißig bis vierzig Prozent lagen. Leider galt der mit unserem Fall betraute Richter als streng und unerbittlich. In den letzten beiden Jahren konnte sie sich an keinen Fall erinnern, in dem er ihren Anträgen gefolgt war.
Ich nahm an, dass er mir den Vorwurf machen würde, nicht in Frankreich um Schutz nachgesucht zu haben. Selbst meine Anwältin hielt meine Gründe nicht für stichhaltig genug, um den Richter zu überzeugen. Mir war es einfach unbegreiflich, dass alles, was wir durchgemacht hatten, nicht ausreichen sollte, um uns ein Leben in Kanada zu ermöglichen!
Jetzt konnte nur noch mein guter Stern helfen, sofern ich einen hatte! Norah wirkte genauso verzweifelt wie ich.
»Selbst wenn unsere Chancen gering sind, müssen wir es versuchen! Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben!«, beschwor uns unsere Anwältin. »Ich wollte Ihnen nur reinenWein einschenken, damit Sie sich keine falschen Hoffnungen machen. Vielleicht wird der Anblick Ihrer Kinder den Richter milde stimmen … Hoffen wir es! In jedem Fall können Sie sicher sein, dass ich alles versuchen werde!«
Als die Anwältin die
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