Der Schlittenmacher
sagte er, »was führt dich zu uns?«
Lenore hielt ein Blatt Papier hoch. »Ich habe vorhin die Nachrichten im Radio mitstenografiert«, berichtete sie. »Ein Hilfsschiff, die Lady Somers , wurde versenkt. Gestern, am 19. November. Siebenunddreißig Menschen sind ums Leben gekommen. «
Mein Onkel setzte sich, wo er stand, auf den Boden. »Gibt es denn keine Menschenseele – wo lebt Adolf Hitler eigentlich? In Berlin, nicht wahr?«, sagte er. »Gibt es denn keinen einzigen Menschen in diesem verdammten Berlin, der Verstand und Mumm genug hat, um Hitler eine Kugel in den Kopf zu jagen?«
Lenore sah ihn nachdenklich an. »Als ich ungefähr fünf war«, sagte sie schließlich, »hat mein Vater unseren Hund erschossen, weil der Tierarzt meinte, unser Hund hätte eine Gehirnentzündung. Unheilbar.«
»Verstehe«, sagte Onkel Donald. »Also gut, Wyatt, dann lassen wir’s für heute gut sein. Zeit zum Abendessen. Du isst ja wahrscheinlich mit uns, Lenore.«
»Ich bin eingeladen worden, ja«, antwortete sie.
Lenore machte die Tür zu. Mein Onkel und ich räumten noch ein bisschen auf und gingen dann ins Haus. Als wir uns an der Spüle die Hände wuschen und uns an den Küchentisch setzten, sagte meine Tante: »Ich habe das Radio ins Schlafzimmer gestellt, Donald. Ich will es nicht beim Essen hören.«
»Dann schalte ich nachher ein«, antwortete mein Onkel. »Gleich nach dem Essen.«
Tante Constance servierte uns Hähnchen mit Kartoffeln. Das Gespräch sprang von einem Thema zum anderen, und das war auch gut, weil es die Sache lebendig machte, obwohl meine Tante oft ein bisschen gereizt reagierte, wenn das Gespräch keinen roten Faden hatte. »Können wir bitte den Schlitten in der Spur lassen«, protestierte sie dann. Aber diesmal sagte sie nichts. Als Tilda das Geschirr abgeräumt hatte, zog Donald aus seiner Hemdtasche den Zettel mit den Radionachrichten, die Lenore in Kurzschrift festgehalten hatte. »Lenore«, wandte er sich an sie, »würdest du das freundlicherweise für mich übersetzen?«
»Mr. Hillyer«, erwiderte Lenore förmlich, »es ist allgemein
bekannt, dass ich mich darauf vorbereite, als professionelle Stenografin zu arbeiten.«
»Natürlich«, räumte mein Onkel ein. »Nun, wenn du diesen Auftrag erledigt hast, schreibst du mir einfach eine Rechnung, und ich werde dich gern und auf der Stelle bezahlen.«
»Darf ich euer Wohnzimmer benutzen?«, fragte sie.
»Ja, Lenore, setz dich nur ins Wohnzimmer«, sagte Tilda.
Lenore brauchte ungefähr eine halbe Stunde. Dann riss sie ein Blatt aus ihrem Heft und stellte eine Rechnung aus. Mein Onkel warf einen Blick darauf. »Der Betrag ist jedenfalls professionell«, meinte er. »Ganz schön gesalzen, aber sei’s drum.« Er unterschrieb und gab Lenore drei Dollar und die Rechnung.
»Trinken wir den Tee im Wohnzimmer oder gleich hier?«, fragte meine Tante.
»Hier in der Küche«, meinte Tilda.
Zuerst setzte sich mein Onkel ins Wohnzimmer und las, was Lenore für ihn in Langschrift übertragen hatte. Dann kam er zurück an den Küchentisch und las uns die ganzen fünf Seiten vor, die Lenore über den Untergang der Lady Somers notiert hatte. Meine Tante und Lenore saßen am Tisch. Ich stand an der Arbeitsplatte und Tilda vor der Tür zu den Schlafzimmern. Der Tee war noch nicht fertig. Als mein Onkel zu Ende gelesen hatte, hätte man eine Nadel fallen hören können.
»Also, Lenore«, sagte er schließlich, »bist du sicher, dass du Wort für Wort mitgeschrieben hast, was sie im Radio gesagt haben?«
Lenore schien keine Zweifel zu haben. »Doch, ich bin mir sicher«, antwortete sie.
»Dann ist das etwas anderes als die Meldungen, die wir jeden Tag zu hören bekommen«, sagte mein Onkel.
DER TAG, AN DEM ICH DEN DEUTSCHEN STUDENTEN HANS MOHRING ZUM ERSTEN MAL SAH
Bis zum Frühjahr 1942 hatte mir mein Onkel fünf neue Kunden übertragen, alle aus der Provinz Quebec. Ich schrieb ihnen Briefe, und drei erklärten sich bereit, ihren Schlitten von mir bauen zu lassen – die beiden anderen meinten, dass sie ihn lieber von Donald hätten, und da kann man ihnen wohl keinen Vorwurf machen. Sie hatten es ganz freundlich ausgedrückt. Natürlich arbeiteten mein Onkel und ich daneben auch weiter zusammen.
Ich musste oft an Tilda denken. Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich dachte selten nicht an sie. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich eigentlich sehr wenig von ihr wusste. Und so war jede neue Entdeckung, jedes Detail über ihre Kindheit und ihre
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