Der Schlittenmacher
aufgeschrieben.«
»Übung macht den Meister«, stellte Tilda fest.
»Wollt ihr’s hören?«, fragte Lenore.
»Nicht wenn ich dazu Riechsalz und eine Couch zum In-Ohnmacht-Fallen brauche«, antwortete meine Tante.
»Wahrscheinlich nicht, Constance«, meinte Lenore. »Leider. «
»Gut, dann lies vor«, sagte meine Tante.
Ich schloss die Tür leise hinter mir.
Ich muss gestehen, dass an diesem Tag ich es war, der fast Riechsalz gebraucht hätte. Ich habe mich nie für besonders romantisch gehalten, obwohl ich in der Highschool manchmal mit einem Mädchen tanzen ging. Ich bekam auch den einen oder anderen Korb. Aber im letzten Winter hatte ich doch etwas wie eine ernste Romanze mit einer Frankokanadierin namens Mavis Joubert – es war mir so ernst, dass ich es Monate, nachdem sie es beendet hatte, noch immer nicht vergessen konnte. Mavis war zwanzig und arbeitete als Kellnerin in einem Fish-and-Chips-Restaurant in der Duke Street. Ihre Zweizimmerwohnung in einem Haus in der Gerrish Street war vollgestopft mit Büchern. Nachdem es aus war, fing sie etwas mit einem Professor für Kunstgeschichte an der Dalhousie University an, der sie auf eine Museumstour nach Italien mitnahm, von der sie allein zurückkehrte. Als ich die Trennung verschmerzt hatte, wurde mir klar, dass ich Mavis dankbar war
für die gemeinsamen nächtlichen Erlebnisse, die meine Mutter »nicht flüchtig« genannt hätte.
Weißt du, Marlais, es ist mir wichtig, dass du verstehst, warum ich damals wegschauen musste, als ich in die Küche kam und Tilda vor mir sah. Es hat mit bestimmten Erinnerungen an eine Lehrerin zu tun, die ich in der zehnten Klasse in Halifax hatte. Sie hieß Mrs. Francine Woods. Meine Noten damals waren höchstens durchschnittlich, aber ich hatte das Gefühl, dass ich überdurchschnittlich aufmerksam war, vor allem in Geschichte und englischer Literatur. Zum Beispiel hörte ich immer besonders gut zu, wenn Mrs. Woods – unfassbar, wahrscheinlich war sie nicht älter, als du jetzt bist, oder höchstens ein, zwei Jahre –, wenn sie mit so viel Begeisterung und so großem Wissen über den englischen Dichter John Keats sprach. Sie trug uns seine Sonette vor und ein paar von seinen Briefen. John Keats war ihr absoluter Lieblingsschriftsteller, das sagte sie öfters.
Jetzt wirst du dich wahrscheinlich fragen, was hat das damit zu tun, dass ich den Blick abwenden musste, als ich vor Tilda stand? Es hat damit zu tun, weil ich mir ganz sicher bin, dass ich mich in dem Moment, als ich in die Küche kam und sie sah, wie sie Tee machte, in sie verliebte. Bis über beide Ohren, total, oder wie immer du es sonst nennen willst. Sie war einfach zu viel Schönheit , darum musste ich wegsehen.
Weißt du, einmal als Mrs. Woods sich eine ganze Woche mit John Keats beschäftigte, da erzählte sie uns eine Anekdote. John Keats spazierte mit einem Freund durch die englische Landschaft, wie sie es oft taten. Sie wanderten einen Hügel hinauf und genossen die Aussicht. Die Sonne war von ein paar Wolken verdeckt, und der blasse Mond war noch am Himmel zu sehen. Unten im Tal lag Nebel über einem Teich, die Schwäne
glitten über das Wasser, verschwanden im Nebel und tauchten wieder auf. Die Ulmen sahen wunderbar intelligent aus in ihrer Größe (ich glaube, »wunderbar intelligent« waren Mrs. Woods‘ Worte, nicht die von Keats). Und Mrs. Woods erzählte, dass John Keats den Anblick plötzlich nicht mehr ertragen konnte. »Zu viel Schönheit – er musste wegsehen. Könnt ihr das verstehen?«, fragte sie uns.
Dein Vater ist ganz bestimmt kein Dichter, aber als ich damals in der Küche Tilda sah, als ich sie so richtig ansah, da war das zu viel Schönheit für mich, und darum wandte ich mich ab. Ich bin sicher, du kannst das verstehen.
Wir hatten in diesem Herbst eine nette Geburtstagsfeier für Tilda. Ihr achtzehnter Geburtstag. Der 4. November. (Mein achtzehnter war am 11. Oktober, und er ging vorbei, ohne dass ich es jemandem sagte.) Zu der Feier kamen drei ihrer Freundinnen von der Highschool, außerdem Constance, Donald, ich und Cornelia Tell. Cornelia hatte für die Torte gesorgt. Den ganzen Abend lief Musik vom Grammofon und aus dem Radio. Ich tanzte einmal mit Tilda und einmal mit meiner Tante. Sonst fragte mich niemand, und ich fragte auch niemanden.
Meine Lehre als Schlittenmacher ging Schritt für Schritt voran. Eine Woche zeigte mir mein Onkel, wie man die Biegsamkeit und Festigkeit von Sperrholz prüfte, wie man es abmaß und
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