Der Schlittenmacher
Stimme kennt jeder aus dem Radio, und er sagt immer diesen Slogan: ›Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‹. Er warnt die Leute, dass überall deutsche Spione sein könnten, die uns belauschen, und wenn man einen Ehemann oder eine Ehefrau beim Militär hat, soll man nichts weitersagen, was sie einem erzählen.«
»Klar, klar«, meinte mein Onkel.
»Also, einmal war auch H.B. Jefferson mit seiner Frau Lennie in der Grünen Laterne . Die Leute lachen und trinken und tanzen, es ist richtig was los. Ich war an dem Abend selbst mit ein paar Freunden dort. Wir saßen sogar an einem Tisch direkt neben H.B. Jefferson, und ein paar Matrosen und ihre Frauen oder Freundinnen saßen an dem Tisch auf der anderen Seite von ihm. Plötzlich erkennt ein Matrose H.B. Jeffersons Stimme – seine Radiostimme. Und dieser Matrose hatte schon einiges getrunken, das hat man sofort gesehen. Er stellt sich auf seinen Stuhl und zerschlägt eine Bierflasche auf dem Tisch, und er zeigt auf H.B. Jefferson und ruft: ›Hey! Hey! Leute, hört mal her! Da sitzt H.B. Jefferson – hier an dem Tisch! Sagen Sie, Mr. H.B. Jefferson, was wissen Sie eigentlich alles, das Sie den braven Leuten hier in diesem Lokal verschweigen?‹ Dann kamen ein paar andere Matrosen und setzten den Typ vor die Tür.«
»Was willst du mir damit sagen, Wyatt?«
»Einerseits wird jetzt im Krieg viel gefeiert, getrunken, getanzt, vielleicht noch mehr als sonst. Bordelle. Rüber in Rigolo’s Pub . Die Grüne Laterne . Die Nachteule . Die Leute trinken und tanzen und lassen es krachen, so oft sie können.«
»Und andererseits?«, fragte mein Onkel. Er hatte aufgehört zu arbeiten und hörte aufmerksam zu.
»Andererseits machen sich die Leute ständig Sorgen, draußen in der Welt könnte irgendetwas passiert sein, von dem sie nichts wissen. So als gäbe es ein furchtbares Geheimnis, das man ihnen bald verraten wird. Und weißt du, was? An dem Abend in der Grünen Laterne , da hatte ich einen Moment lang das Gefühl, dass ein paar Matrosen H.B. Jefferson hinaus in die Gasse zerren könnten und ihn so lange prügeln, bis er ihnen alles verrät, was er weiß und sie noch nicht wissen.«
»Man könnte es ihnen nicht mal verübeln, wenn sie’s täten, oder?«, erwiderte mein Onkel.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber H.B. Jefferson hat auch einen schwierigen Job, würde ich sagen.«
»Das hat er sicher«, meinte Onkel Donald. »Aber du darfst nicht vergessen, wie der Mensch nun mal ist. Während des letzten Krieges war ich in einem englischen Dorf. Meine Kumpel und ich, wir waren völlig erledigt und hatten seit Tagen nicht mehr geschlafen. Wir kamen in ein Bauernhaus. Der Farmer erzählte uns, seine Nachbarn hätten irgendeinen Kollaborateur erschossen. Er hat uns keine Einzelheiten verraten. Aber was er gemeint hat, war, dass das allgemeine Misstrauen so groß war, dass seine eigenen Nachbarn, die er sein ganzes Leben gekannt hatte, auf einmal nicht mehr klar denken konnten. Ich werde nie vergessen, was er zu uns sagte: ›Meine Nachbarn haben Wind davon bekommen, dass ein Saboteur unter ihnen ist
– und plötzlich sehen sie jeden mit anderen Augen, sogar ihre Kühe und Schafe.‹ Was ich sagen will – H.B. Jefferson bewegt sich auf einem schmalen Grat.«
»Auf einem schmalen Grat zwischen …?«
»Zwischen den beiden Slogans, die man überall in Halifax hört und liest: ›Nimm’s mit einem Lächeln, die Hoffnung lebt‹ und ›Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‹ . Aber man muss fast Mitleid mit dem Mann haben. Bei all den Geheimnissen, die er kennt, schläft er sicher nicht besonders ruhig.«
»Ja, bestimmt klingelt oft mitten in der Nacht sein Telefon«, sagte ich.
»Wahrscheinlich jede Nacht«, fügte mein Onkel hinzu.
Onkel Donald betrachtete die Schlagzeilen an der Werkstattwand, und ich konnte fast sehen, wie sein Mitleid mit H.B. Jefferson schwand. »Aber ich brauche H.B. Jeffersons geheime Informationen gar nicht, um zu wissen, dass die Lage immer schlimmer wird«, meinte er. »Das ist in jedem Krieg so. Es wird immer schlimmer, bis es irgendwann aus ist. Und der Durchschnittsbürger kann’s gar nicht glauben, wenn der Krieg auf einmal aus ist. Warum? Weil bis zur letzten Minute die Lage immer schlimmer wird.«
Kurz vor dem Abendessen klopfte es an der Werkstatttür. Was als Nächstes passierte, knüpfte für mich direkt an das an, was mein Onkel zuvor über den Krieg gesagt hatte. Er öffnete die Tür und trat einen Schritt zurück. »Lenore«,
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