Der Schlittenmacher
Persönlichkeit etwas Besonderes für mich. Zum Beispiel hatte Tilda am 25. August 1942 einen Termin bei einem Heilmagnetiseur, einem gewissen Dr. Everett Sewell in der Ingus Street in Halifax. Donald und Constance hofften, Dr. Sewell könne Tilda durch Hypnose oder »Magnetisieren« dazu bringen, »im Wachschlaf zu reden«, wie Donald es ausdrückte, und zu verraten, warum sie kaum noch an irgendetwas anderes dachte, als über den Tod von Menschen zu trauern, die sie nie gesehen hatte und deren Namen sie teilweise in Todesanzeigen fand. Bis dahin hatte ich über diese Neigung von ihr nicht viel gewusst
– nur dass sie die Todesanzeigen und Nachrufe so las, als wäre es die Bibel. Das machte sie schon, seit sie fünfzehn war. Mit siebzehn hatte sie dann begonnen, ihre eigenen erfundenen Nachrufe zu schreiben. Über Personen, die es nicht wirklich gab. Irgendwann ließ sie mich ein paar davon lesen. Ich fand, dass Tilda wirklich Talent zum Schreiben hatte. Ich wusste ja nicht, wie die anderen ihre Arbeiten beurteilen würden, aber in meinen Augen schrieb Tilda einfach traumhaft. Sie hatte jede Menge Fantasie. Ich dachte mir, es müsse für jeden eine Ehre sein, von ihr einen Nachruf geschrieben zu bekommen. Das ist eine Kunst, wenn es ein richtiger Künstler macht.
Doch als sie verkündete, sie wolle eine professionelle Klagefrau werden (es gab in Neuschottland nur zwei Personen, die diese Tätigkeit als Beruf ausübten), zeigten sich Donald und Constance gar nicht erfreut. Ich war dabei – aber Tilda nicht –, als Reverend Witt von der Bayside Methodist Church von Middle Economy bei uns in der Küche Tee trank und den Vorschlag machte, Tilda solle sich hypnotisieren lassen. Witt kannte einen gewissen Dr. Sewell in Halifax und brachte ein Empfehlungsschreiben für Tilda mit. »Es ist ja nicht so, dass das, was sie tun möchte, etwas Unwürdiges wäre«, meinte Witt. »Es kommt ja vor, dass die Angehörigen mit dem Verstorbenen zerstritten waren. Oder dass der Verstorbene einfach alle überlebt hat, die ihn gekannt haben. Es gibt viele Möglichkeiten, warum jemand niemanden mehr hat, der um ihn trauert. Wirklich, das ist eine sehr nützliche Tätigkeit, vielleicht sogar in geistlicher Hinsicht.«
»Wo liegt dann das Problem?«, fragte mein Onkel.
»Es ist nur so … Neulich hatte ich eine Beerdigung auf dem Friedhof von Great Village – Mary Albright ist gestorben –, und ich weiß, dass ihr die Albrights nicht gekannt habt«, erklärte Reverend
Witt. »Und da sah ich eure Tilda, wie sie sich vor einem Grabstein auf den Boden warf. Sie hat geweint. Richtig laut.«
»Wollen Sie damit sagen, meine Tochter sollte keinen Beruf lernen?«, warf mein Onkel ein.
»Doch, das gibt ihr Unabhängigkeit. Sie hätte etwas Eigenes, auf das sie stolz sein kann, und das ist gut«, meinte Reverend Witt. »Nach dem, was Sie gesagt haben, ist die Universität nichts für sie. Und die professionelle Totenklage hat hier in Neuschottland durchaus eine gewisse Tradition. Aber wenn Sie mich schon fragen, dann will ich einfach nur sagen, dass es mir ein bisschen seltsam vorkommt, dass eine so schöne junge Frau so etwas machen möchte. Sie ist lebhaft und neugierig auf das Leben, das sieht man doch. Ich habe auch gehört, dass sie sich schon zwei schwarze Kleider für den Beruf genäht hat.«
»Sie ist eine gute Näherin«, warf Tante Constance ein. »Dafür übernehme ich die Verantwortung.«
Mein Onkel trug Reverend Witts Tasse zur Spüle, bevor er seinen Tee ausgetrunken hatte. Er sah aus dem Fenster und sagte: »Wenn Tilda in aller Öffentlichkeit zeigen will, dass sie so viel überschüssige Trauer zu geben hat … Außerdem ist das Ganze auch noch mit ein wenig Einkommen verbunden. Bei dem Begräbnis in Great Village hat Tilda offenbar für ihr Handwerk geübt – während Sie das Ihre ausgeübt haben, Reverend. «
»Aber es kann ja nicht schaden, einmal zu diesem Dr. Sewell zu gehen«, meinte Tante Constance.
»Es schadet der Brieftasche«, erwiderte mein Onkel. »Die Sitzung kostet fünfundzwanzig Dollar, sagt Reverend Witt, nicht wahr?«
Als Reverend Witt gegangen war, sagte meine Tante: »Wyatt, was meinst denn du?«
Ich liebte Tilda insgeheim so sehr, dass ich nur so antworten konnte, als wäre sie hier bei uns im Zimmer und könnte mich hören. »Vielleicht sollte man mit Tilda selbst darüber reden.«
»Klingt vernünftig«, meinte mein Onkel und scheuerte Reverend Witts Teetasse blank.
An diesem Abend sprach
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