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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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ganz schön in die Mangel genommen, glaube ich«, meinte Cornelia.
    »Wenn du genau hinschaust, dann siehst du, dass er am Kinn und am Hals verfärbt ist«, sagte Tilda. »Blaue Flecken. Sie haben ihn verprügelt in Halifax. Der Kragen deckt es ein bisschen zu. Im Bus hat er gemerkt, dass es mir aufgefallen ist, da hat er den Kragen zugeknöpft. Aber als wir dann ins Gespräch kamen, hat er es mir sofort erzählt. Deutsche sind momentan nicht besonders gern gesehen in Halifax.«
    »Die Leute fragen sich vielleicht, ob Hans womöglich Brüder hat, die in einem deutschen U-Boot sitzen«, meinte Cornelia.
    »Cornelia, setz dich bitte mal kurz, ja?«, bat Tilda.
    Cornelia setzte sich an den nächsten Tisch.
    »Hans hat es mit dem Herzen«, erklärte Tilda.
    »Na, hat das nicht jeder irgendwie?«, erwiderte Cornelia.
    »Aber bei ihm ist es ein Fall für die Ärzte«, fuhr Tilda fort. »Er wird hin und wieder ohnmächtig. Ich weiß ja, wovon ich rede, aber er hat sogar im Bus das Bewusstsein verloren – auf einmal ist er umgekippt. Ich hatte mich schon gefragt, warum er sich nicht neben mich setzt. So bezaubernd wie ich bin. Als er ohnmächtig wurde, habe ich verstanden, dass er es aus Rücksicht tat. Er wollte nicht, dass er gegen meine Schulter fällt, falls es ihm passiert. Mr. Harrison, der Busfahrer, hat ihn im Rückspiegel gesehen, wie er zusammensackte. Er hielt an, kam zu uns und sah nach seinem Puls. Hans war nicht ganz weg. »Sorry, sorry, sorry«, sagte er zu jedem im Bus – das waren zwar nur ich und Mr. Harrison, aber trotzdem. Es war jedenfalls eine ereignisreiche Busfahrt. Und weißt du was, Cornelia? Ich hab
ein bisschen Geld übrig und hätte dir seine Miete auch aus der eigenen Tasche gezahlt, ohne zu überlegen.«
    Tilda und ich fuhren schweigend nach Hause. Sie sah die ganze Zeit aus dem Fenster.

JE FRÜHER DU TILDA SAGST, WAS DU EMPFINDEST, UMSO BESSER
    Ich habe mich immer gefragt, wie Hans Mohring darüber dachte, dass meine Tante und mein Onkel keine Bücher im Haus haben. Es muss ihm ja aufgefallen sein, wo er doch Philologie studierte. Ich hatte immer das Gefühl, dass ein Haus, in dem es Bücher gibt (und nicht nur eine Bibel), einen verborgenen Geist besitzt, und vielleicht dachte ich mir das, weil so wenige Menschen in Middle Economy ihre Bücher sichtbar irgendwo stehen hatten. Lesen war etwas sehr Privates, vor allem das Lesen von Romanen. Wenn ich so überlege, Marlais, dann muss ich sagen, dass deine Mutter hauptsächlich in den drei Räumen der Bibliothek von Middle Economy gelesen hat. Es war das einzige Steingebäude im Ort, nicht weit von der Bäckerei entfernt. Ich erinnere mich, dass Tilda eines Abends nach Hause kam und sich am Ofen aufwärmte. »Heute Nachmittag«, erzählte sie, »habe ich Geschichten von Katherine Mansfield gelesen. Das Buch heißt In einer deutschen Pension . Katherine Mansfield kommt aus Neuseeland. Ihre Geschichten sind viel zu gut, als dass man sie irgendwie zusammenfassen könnte.«
    Wenn ich sage, es gab keine Bücher im Haus, dann stimmt das nicht ganz, weil Tilda an ihrem achtzehnten Geburtstag das Highland Book of Platitudes auslieh. Woher weiß ich, dass sie
es nicht zurückgegeben hat? Weil es hier vor mir auf dem Küchentisch liegt. Ich kann mir vorstellen, dass sie das Highland Book of Platitudes – auch wenn das gegen alle Regeln verstieß – als ein Geburtstagsgeschenk für sich betrachtet hat. Soweit ich weiß, hat die Bibliothekarin damals, Mrs. Bethany Oleander, die aus Newport Station stammte, nie etwas unternommen, damit Tilda es zurückgab. Ich glaube aber nicht, dass das Buch sehr gefragt war. Es hat einen abgenutzten roten Ledereinband. Tildas Lesezeichen aus braunem Leder (sie hatte es per Post in Halifax bestellt) trägt die Initialen TH, und es steckt immer noch dort, wo sie es zuletzt hineingelegt hat, zwischen den Seiten 112 und 113.
    Doch bei Tilda war das Highland Book of Platitudes sehr gefragt; sie las jeden Abend darin. Manchmal, spätabends, hörte ich sie laut lesen und nicht bloß flüstern. Ich mache jetzt einen kleinen Sprung, aber ich erinnere mich noch genau an den Tag, als Hans Mohring zum ersten Mal zu uns zum Essen kam. »Na los, Hans, du musst dir meine Bibliothek ansehen«, verlangte sie, nahm ihn an der Hand und führte ihn in ihr Zimmer. Die Tür ließ sie natürlich offen. Ich spielte wieder den Anstandsbegleiter und wartete im Hausflur. »Sieh dir dieses Buch an, Hans«, forderte sie ihn auf. »Es heißt The

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