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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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Tante.
    »Das ist ein Märchen der Brüder Grimm«, erklärte Hans.
    »Diese Brüder Grimm«, warf mein Onkel ein, »gibt’s von denen ein paar richtig gruselige Geschichten? Wenn Sie welche kennen, Hans, dann gehen Sie raus und machen Sie den kleinen Störenfrieden mal tüchtig Angst. Vielleicht streuen Sie auch noch ein paar deutsche Wörter ein.«
    »Wollen Sie damit etwa sagen, dass Hänsel und Gretel deutsche Kinder waren?«, fragte meine Tante.
    »Ja, und auch ›Rapunzel‹ und ›Rumpelstilzchen‹ sind von den Brüdern Grimm«, erklärte Hans.
    »Nicht ›Rumpelstilzchen‹!«, war meine Tante überrascht.
    »Ich fürchte, schon«, sagte Hans.
    »Also, man lernt nie aus.«
    Tilda trug ein Kleid, das sie selbst genäht hatte. Es war knöchellang und aus einem Baumwollstoff von einem fast schwarzen Blau. Ich hatte gesehen, wie sie es genäht hatte, aber noch nie, dass sie es trug. Dass Hans Mohring zum Essen kam, war offenbar der Anlass, auf den sie gewartet hatte. Das Kleid hatte einen hohen Kragen mit einer Kamee aus Elfenbein. Hans trug wieder sein weißes Hemd mit zugeknöpftem Kragen, und so erinnerten sie mich beide an ein Porträt eines biederen britischen
Paares aus der viktorianischen Zeit, das über dem Kartenkatalog in Mrs. Oleanders Bibliothek hing. Jetzt wird mir klar, warum ich an das Bild in der Bibliothek dachte; offenbar fürchtete ich irgendwie, sie könnten selbst ein altes Ehepaar werden. Wer weiß? Vielleicht würden sie einmal wohlhabend sein und in England leben. Der Gedanke gefiel mir gar nicht, aber du kannst nichts dagegen machen, wohin deine Gedanken schweifen, nicht wahr?
    Das Abendessen verlief sehr gesittet. Alle waren höflich – »Kann ich mal bitte das Brot haben?« und »Wie ist es denn so an der Universität, Hans?« –, aber ich sah, dass Hans Tilda richtig toll fand. Außerdem hatte man sie schon zusammen in der Öffentlichkeit gesehen, in Cornelias Bäckerei, am Kai von Parrsboro und wie sie Hand in Hand über den hufeisenförmigen Strand spazierten. Cornelia Tell hatte sie sogar »Turteltauben« genannt. Und als Reverend Witt vorschlug, Tilda solle Hans als Gast in die Kirche mitnehmen, sagte sie, so erzählte Witt später: »Ich habe diesen Sonntag ein anderes Rendezvous vor.« Ich weiß, dass sie viele Stunden in der Bibliothek saßen, ja sogar länger, als sie eigentlich geöffnet war, weil Mrs. Oleander Tilda einen Schlüssel gegeben hatte. So konnten Tilda und Hans über Gott weiß welche Wörter diskutieren und hatten ungestörten Zugang zum großen Webster’s Dictionary.
    Beim Essen wurde kein heikles Thema angeschnitten; mein Onkel vermied es, über deutsche U-Boote oder auch nur über den Krieg ganz allgemein zu reden, und Hans hielt uns keine Vorträge über Philologie. Hans nahm sich noch ein paar Kartoffeln, und ich und mein Onkel ebenso. Zwei- oder dreimal herrschte beim Essen ein leicht peinliches Schweigen. Es war aber nicht so ein Gefühl, das man manchmal hat, als hätte irgendetwas von außen die menschlichen Stimmen verstummen
lassen. In solchen Fällen sagte meine Tante nämlich immer: »Ein Engel fliegt vorbei.« Das Essen verlief ohne besondere Vorkommnisse. Doch als Tilda verspielt einen Löffelvoll von Hans’ Vanilleeis stahl (er hatte auf den Ahornsirup verzichtet), wurde es mir doch zu viel. »Hans«, platzte es aus mir heraus, »wie kommt man eigentlich auf die verrückte Idee, sich neunmal hypnotisieren zu lassen?«
    Tilda steckte sich die Daumen in die Ohren. Es war nicht nur leichtsinnig von mir, den Grund anzusprechen, warum Reverend Witt vorgeschlagen hatte, Tilda solle einen Hypnotiseur aufsuchen – das war ein heikles Thema in unserem Haus –, nein, ich hatte gleichzeitig angedeutet, dass Hans ebenfalls nicht ganz richtig im Kopf sei.
    »Hans, meine Familie – auch Wyatt – hat nicht viel Erfahrung mit Hypnose«, erläuterte Tilda. »Wyatt hat es nicht so gemeint.«
    »Ja, aber nehmen wir einfach mal an, dass Wyatt sehr wohl etwas Bestimmtes damit sagen wollte«, antwortete Hans. »Da kann ich ihm nämlich ein bisschen Nachhilfeunterricht geben …«
    »Nicht nötig – ich hätte fast die Highschool abgeschlossen. Ich hab nur ein Jahr früher aufgehört«, wandte ich ein.
    »Ich kann dir jedenfalls erklären, warum ich die Hypnose so oft gebraucht habe«, fuhr Hans fort.
    »Na, dann erklären Sie’s doch uns allen«, schlug Onkel Donald vor.
    »Das können Sie aber auch im Wohnzimmer machen«, warf meine Tante ein. »Tilda,

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