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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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Highland Book of Platitudes . Es ist wirklich interessant.«
    Meine Tante servierte den Tee im Wohnzimmer. Wir waren alle da, mein Onkel, meine Tante, Tilda, ich und Hans. Hans ließ sich ausführlich über das Wort Plattitüde aus, und wir hörten ihm zu. »Es ist ja nicht so, dass eine Plattitüde keine wichtigen Dinge ausdrücken könnte«, dozierte Hans. »Aber nach dem Wörterbuch – und ich gebe das jetzt nicht exakt wieder – handelt es sich um eine nichtssagende, abgedroschene Aussage, die aber oft so präsentiert wird, als wäre es ein neuer Gedanke.
Politiker drücken sich zum Beispiel oft so aus, wenn sie ihre Meinungen vertreten.«
    »Dann sind die Dinge, die in meinem Buch stehen, keine Plattitüden in diesem Sinn«, wandte Tilda ein. »Ich finde sie nämlich überhaupt nicht abgedroschen.« Mir fielen in diesem Moment zwei Dinge auf. Erstens, dass Tilda nicht erfreut war. Zweitens, dass Hans vielleicht ein bisschen in Ungnade gefallen war. Zumindest hoffte ich das.
    »Nun, danke, Hans. Ich habe viel gelernt«, meinte meine Tante. »Aber jetzt ist das Essen fertig.«
    Erinnerst du dich, dass ich diese Liebesknochen erwähnt habe? An dem Abend, als Hans Mohring mit dem Bus ankam, trafen wir uns wirklich noch in der Bäckerei. Cornelia saß in der Ecke, und ich wusste, dass ihr auffiel – auch wenn sie nichts sagte –, dass Hans seine Gabel mit den Zinken nach unten in der linken Hand hielt und die fein säuberlich geschnittenen Stücke zum Mund führte, ohne die Gabel in die rechte Hand zu nehmen. Europäer machten das so, erfuhr ich. Am nächsten Tag stellte Tilda Hans meinem Onkel und meiner Tante vor, aber Tilda verschwand gleich wieder mit ihm. »Ich zeige Hans Middle Economy«, verkündete sie. »Alles, was es zu sehen gibt. Das wird in einer halben Stunde erledigt sein, dann werden wir uns an den Kai setzen und drei oder vier Stunden über alles reden, was wir gesehen haben. Erst das Erlebnis, dann das Erinnern – so bleibt es länger erhalten.« Ich wusste, dass Tildas letzter Satz aus dem Highland Book of Platitudes stammte, aber ich weiß nicht, ob es Donald oder Constance auffiel. Und weg waren sie. Eine Woche später verkündete Tilda: »Ich habe Hans Mohring zum Essen eingeladen.«
    »Warum so eilig?«, fragte meine Tante.
    »Die Einladung ist schon ausgesprochen«, sagte Tilda.

    »Für welchen Tag?«
    »Morgen Abend«, antwortete Tilda.
    »Ich hol mal meine Rezepte raus«, sagte Tante Constance.
    »Das wird eine nette Abwechslung für Hans«, meinte Tilda. »Bis jetzt hat er nichts anderes gegessen als Cornelias Sandwiches. «
    »Ich hoffe, er hat dir einige davon abgegeben«, bemerkte meine Tante.
    »Willst du mir damit sagen, dass du mich in letzter Zeit nicht beim Abendessen gesehen hast?«, fragte Tilda.
    Am nächsten Abend um halb sieben war der Tisch mit dem schönsten Geschirr gedeckt, das meine Tante besaß, dazu gab es Stoffservietten. Auf ein Tischtuch hatte sie verzichtet, dafür war das Holz frisch poliert. Hans saß neben Tilda. Ich nahm den einzelnen Stuhl ihnen gegenüber, und so saß ich auffallend allein auf dieser Seite des Tisches. Mein Onkel und meine Tante hatten die Plätze an den beiden Tischenden. Tante Constance servierte gebratenen Lachs, Salzkartoffeln, Brot und – was bei uns selten auf den Tisch kam – Weißwein, dazu einen Krug Wasser. Sie sprach ein Tischgebet. Hans langte ordentlich zu und hielt die Gabel wieder auf diese ungewohnte Weise. »Also, jetzt seht euch mal das an!«, sagte meine Tante, und wir drehten uns alle zum Fenster. Mindestens fünf oder sechs Kinder standen draußen und drückten ihre Nasen an die Scheibe.
    »Ich glaube, Cornelia Tell hat jemandem etwas erzählt«, meinte Tilda.
    »Sie geben den Kindern eine nette Lektion in deutschen Tischmanieren«, sagte mein Onkel und wechselte seine Gabel von der rechten in die linke Hand, bevor er ein Stück Lachs aufspießte und aß. Hans ging sofort darauf ein.
    »Vielleicht setze ich mich nach dem Essen auf die Veranda
und erzähle ihnen eins von Grimms Märchen«, schlug er vor.
    »Ein grimmiges Märchen?«, erwiderte meine Tante. »Ich weiß nicht. Das sind immerhin die Kinder unserer Nachbarn.«
    »Nein, nein«, erwiderte Hans. »Die Brüder Grimm. Sie haben aus überlieferten Geschichten Märchen niedergeschrieben. Sie sind sehr berühmt, auch wenn sie schon lange tot sind. Kennen Sie ›Hänsel und Gretel‹ ?«
    »Ich habe es Tilda vorgelesen, als sie klein war«, antwortete meine

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