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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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Europa. Ich sehe mir auch selbst manchmal ein Studentenkonzert an. Aber soweit ich weiß, hat sich noch kein Student von Dalhousie in der großen weiten Welt einen Namen gemacht.«
    Ich war so dankbar für Randalls Geduld, dass ich sagte: »Meine Tante hat immer nur Beethoven, Bach und Chopin gehört – kannst du vielleicht irgendwas empfehlen, das sie überraschen würde? Du hast bestimmt eine gute Idee.«
    Randall schien erfreut über die Aufgabe. Er ging zu einem der Kästen an der Wand ganz hinten, nahm eine Platte heraus und reichte sie mir. »Das könnte funktionieren«, meinte er.
    Hans war neugierig und kam zu uns, um zu sehen, was Randall ausgesucht hatte. » La Bohème von Puccini«, sagte er. »Tilda, hört deine Mutter gern Opern?«
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab Tilda zu.
    »Setz das auch auf meine Liste, Randall«, sagte Hans.
    »Nein«, wandte ich ein. »Das ist mein Geschenk für meine Tante.«
    »Kannst du sie für uns abspielen, Randall?«, bat Tilda.

    Randall nahm die Schallplatte aus der Hülle, hob vorsichtig die Grammofonnadel und wechselte die Platte. Er setzte die Nadel auf die Platte, und als die Oper begann, hängte er das GESCHLOSSEN-Schild an die Tür, schloss ab und ließ den Rollladen herunter. »Es ist ein Verbrechen, wenn La Bohème gestört wird.«
    Randall holte einen Stuhl aus dem Lagerraum. Ich nahm den Stuhl, Tilda und Hans setzten sich Händchen haltend auf das abgenutzte Sofa. »War Puccini mal in Kanada?«, sagte ich fast im Flüsterton zu Randall, als er vorbeiging.
    »Ich weiß ganz sicher, dass er nie hier war«, antwortete Randall leise.
    Nach zehn Minuten wusste ich – auch wenn ich die Worte nicht verstand –, dass diese Musik keine kleinen Gefühle zuließ. Tilda schmiegte sich eng an Hans und schloss die Augen mit einem friedvollen Gesichtsdruck. Randall legte sich auf den Boden, den Kopf auf den Stapel Schallplatten gestützt, die er für Hans herausgesucht hatte.
    Hans wechselte die Schallplatte und setzte sich wieder zu Tilda auf das Sofa. Erneut fanden sich ihre Hände. Ich blickte zum Schaufenster hinüber und sah drei Männer in der Uniform der Royal Canadian Navy hereingucken. Einer von ihnen war der Kunde, der im Laden gewesen war, als Hans und Randall einander auf Deutsch begrüßt hatten. Die Männer fragten sich wahrscheinlich, warum das Geschäft geschlossen war. Ich bin sicher, dass sie La Bohème hören konnten. Ein Gesicht verschwand, und ich hörte, wie jemand versuchte, die Tür zu öffnen. Randall, Hans und Tilda waren ganz in die Musik versunken. Doch ich hatte auf einmal ein ziemlich ungutes Gefühl, auch wenn ich nicht genau wusste, warum. Ich dachte mir, es müsse wohl an den Uniformen liegen, die mich daran erinnerten, dass ich
mich zur RCN gemeldet hatte und es bald mit U-Booten und anderen Horrordingen zu tun bekommen würde. Dann verschwanden die drei Männer wieder.
    Als La Bohème aus war, sagte ich: »Randall, ich fürchte, wegen des Schildes sind dir ein paar Kunden entgangen.«
    »Sieh’s mal so: Was wäre, wenn jemand die Oper hätte kaufen wollen, während wir sie hörten?«, erwiderte Randall. »Ich habe nur das eine Exemplar da.«
    Randall suchte auch noch die restlichen Schallplatten auf der Liste, soweit er sie dahatte. Hans hatte ein bisschen zu wenig Geld eingesteckt. Ich wollte einspringen, doch Randall meinte: »Den Rest können wir mit Deutschstunden regeln.« Er verpackte die Platten einzeln in Geschenkpapier und schrieb eine Rechnung. »Wir sollten heimfahren«, sagte ich.
    »Aber warum denn?«, erwiderte Tilda, und mir fiel kein triftiger Grund ein.
    »Wollt ihr noch eine Oper hören?«, schlug Randall vor. »Wenn ich mal geschlossen habe, dann mache ich erst am nächsten Morgen wieder auf. Es ist mein Ding, wann ich offen habe und wann nicht.« (Ich sah, dass Hans den Satz in sein Notizbuch schrieb.)
    Doch wir fuhren bald los. Die Schallplatten kamen auf den Rücksitz. Zurück in Middle Economy gingen wir – hungrig, wie wir waren – gleich in die Bäckerei. Cornelia hatte Tilda einen Schlüssel gegeben. Als wir eintraten, fanden wir eine Nachricht von Cornelia: Bin ein bisschen angeschlagen. Auf der Theke steht ein halber Kuchen . Dieser Kuchen mit Vanilleglasur war unser Abendessen. Ich verließ die Bäckerei gegen neun Uhr.
    Am nächsten Morgen wurde ich wachgerüttelt, und ich sah meinen Onkel Donald, sein unrasiertes Gesicht hager und ausgezehrt, und mit einem Atem, als hätte er Sägespäne

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