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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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von dem man die mächtige Gezeitenwelle beobachten konnte. Die Bucht lag keine fünfzig Meter von dem Restaurant entfernt, doch die Leute aus der Gegend betrachteten die Flutwelle als ein riesiges Naturschauspiel. Das Restaurant, McKay’s Diner, prahlte sogar auf seiner Speisekarte mit der Flutwelle – da war eine Zeichnung von einem Paar, das tollkühn in einem Ruderboot auf einer riesigen Welle ritt und dabei Pfannkuchen verdrückte. Darunter stand: »Unsere Heidelbeer-Pfannkuchen sind ein Naturereignis«. Zum 61. Geburtstag meiner Tante, am 5. Januar 1942, waren wir zum Frühstück in dieses Restaurant gegangen – ich, Tilda, Donald und Constance –, und die Pfannkuchen waren wirklich vorzüglich. Als Donald mit einer Geschichte aus seiner Kindheit begann, wie er trotz eines verstauchten Knöchels an einem Eisschnelllauf-Rennen teilgenommen hatte, sagte Tante Constance: »Mein lieber Mann, deine Heldengeschichten sind ungefähr so spannend wie eine zehn Zentimeter hohe Flutwelle.« Ich lachte laut, und Tilda ebenso, und sogar die Kellnerin, die uns Kaffee nachgeschenkt hatte. Aber dann fragte die Kellnerin doch meinen Onkel: »Und – haben Sie gewonnen oder nicht?«
    Auf dem Schild an der Ladentür stand SCHMIED BEI DER ARBEIT, und wenn man hineinging, sah man genau das. Steven
Parish war in Truro zur Welt gekommen und aufgewachsen. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, sah gut aus und hatte lockiges schwarzes Haar, das er sich meist mit einem Tuch aus der Stirn band. Er war kräftig gebaut und ging mit Präzision und Anmut mit seinem Werkzeug um, vor allem in Anbetracht seiner »jugendlichen Arthritis«, wie Tante Constance es nannte. Als ich die Tür öffnete, sah mich Steven Parish sofort und kam in seiner fleckigen Schürze, seiner Schutzbrille und seinen Asbesthandschuhen auf mich zu. Er drückte mir einen Schmiedehammer an die Brust und sagte: »Wyatt, egal was Sie von Ihrem Onkel wollen – ich würde jetzt nicht mit ihm reden. Er sitzt in meinem Büro und hört gerade einen Albtraum-Bericht im Radio. Ich würde mich an Ihrer Stelle wieder ins Auto setzen und nach Hause fahren.«
    »Was meinen Sie mit ›Albtraum‹ ?«, fragte ich.
    »Ein deutsches U-Boot hat die Fähre Caribou versenkt, und Constance war vielleicht an Bord, auf dem Weg nach Hause von Neufundland.«
    Parish trat zu ein paar Schlittenkufen, die an der Wand lehnten. »Nehmen Sie die hier mit«, sagte er, dann ging er in sein Büro. Bevor er die Tür hinter sich zumachte, sah ich noch kurz meinen Onkel, wie er mit der Faust auf den Tisch hämmerte. Donalds Gesicht war so verzerrt, dass mir der Anblick wehtat. Ich nahm die Kufen und legte sie auf den Rücksitz meines Wagens. Dann fuhr ich nach Middle Economy.
    Ich brachte die Kufen in die Werkstatt und ging gleich ins Haus. Zufällig hatte Tilda von Cornelia erfahren, dass Donald in Truro war, und so nützte sie seine Abwesenheit, um ein paar persönliche Dinge aus ihrem alten Zimmer zu holen. Als ich hineinkam, blätterte sie gerade im Highland Book of Platitudes . Sie blickte von ihrem Buch auf und sah mich in der Tür stehen.
»Randall geht es gar nicht gut«, sagte sie. »Jeder Atemzug tut ihm weh, aber er hat gemeint, dass er seinen Schallplattenladen wieder ganz neu aufbauen wird – und ich und Hans werden ihm dabei helfen.«
    Ich gab keine Antwort. »Was ist los, Wyatt? Nein, sag nichts – dein Gesicht ist ein einziger Notruf: Mayday! Mayday!«
    Ich setzte mich neben sie aufs Bett und nahm ihre Hände in die meinen. »Tilda. Eine der Fähren, die Tante Constance genommen hat. Sie heißt Caribou .«
    »Großer Gott, nein!« Sie schob mich weg, stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. »Ist es sicher, dass sie gesunken ist?«
    »Soweit ich weiß, schon. Ich war gerade beim Schmied in Truro. Ich wollte zu Donald, und als ich hinkam, sagte mir Steven Parish, sie hätten es gerade im Radio gemeldet. Und er hat gesagt …«
    »… was?«, fragte Tilda, ohne sich zu mir umzudrehen. »Was hat Steven Parish gesagt?«
    »… dass die Caribou gesunken ist.«
    »Aber ist es auch sicher, dass Mutter auf der Fähre war? Diese Fähren sind doch zweimal die Woche oder noch öfter zwischen Neufundland und Neuschottland unterwegs, nicht wahr? Außerdem wollte sie sich alles Mögliche ansehen und eine Weile bleiben. Seit sie weg ist, sind schon einige Fähren hin- und hergefahren, ohne dass sie drauf war.«
    »Ich weiß auch nicht genau, wann sie zurückkommen wollte, Tilda. Ich weiß nur,

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