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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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fragst«, erwiderte er.
    Ich hatte gerade Beethovens Sonate in F-Dur aufgelegt, als das Telefon in der Küche klingelte. Ich sah auf die Uhr: 1:20 Uhr nachts. Ich nahm den Hörer ab und meldete mich, und Tilda sagte: »Wyatt, da sind irgendwie zwei Krähen in die Bibliothek gekommen. Ich glaube, durch ein zerbrochenes Fenster. Sie sind jetzt drinnen. Hier …«
    Offenbar hielt sie den Hörer in die Luft, denn ich hörte ein lautes und deutliches Krächzen. »Hast du das gehört?«, fragte sie. »Ich kann nicht lesen bei dem Lärm. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich werde verrückt. Eine Schublade im Katalog war einen Spalt offen, und eine Krähe hat so viele Karten herausgezupft, wie sie erwischt hat. Die andere hat von Mrs. Oleanders Schreibtisch aus zugesehen.«
    »Tilda, willst du damit sagen, dass ich rüberkommen soll?«
    »Ich hab dir das mit den Krähen erzählt, tu was du willst.«
    Ungefähr zehn Minuten später war ich in der Bibliothek. Es blitzte draußen über dem Minas-Becken. Als ich die Tür öffnete, hörte ich schon das raue Krächzen einer Krähe. Ich ließ die Tür offen. Im Licht einer Stehlampe neben einem Polstersessel und dem flackernden Licht vom Kamin sah ich Tilda in Strümpfen, bekleidet mit Jeans, einem blassblauen Hemd und
einer schwarzen Weste. Sie schrubbte gerade den Schreibtisch mit einem Wischlappen.
    »Diese Krähe da hat auf Mrs. Oleanders Tisch geschissen«, sagte sie.
    »Was glaubst du denn, wie sie reingekommen sind?«
    »Wahrscheinlich ist oben ein Fenster zerbrochen – vielleicht weil es der Wind zugeschlagen hat. Die Bibliothek hat einen Dachboden, weißt du.«
    »Das hab ich nicht gewusst.«
    Ich sah die Katalogkarten auf dem Boden verstreut. Eine Krähe saß immer noch auf Mrs. Oleanders Tisch und schwieg. Die andere hatte sich auf einem der langen Lesetische niedergelassen, wo sie mit klickenden Lauten eine Seite aus einem Buch herausriss; den Deckel hielt sie mit ihrer Kralle auf. Ich zog meine Schuhe aus und warf einen nach dieser Krähe. Sie wich dem Geschoss aus und flatterte hoch, die Buchseite im Schnabel, um schließlich auf Mrs. Oleanders Tisch zu landen. Beide Krähen hüpften auf dem Tisch herum. Ich warf den zweiten Schuh – diesmal traf ich einen der Vögel, worauf beide direkt auf Tilda zuflogen, die mit dem Wischlappen fuchtelte und sie zur Haustür trieb.
    Sie flogen hinaus, und Tilda schlug die Tür hinter ihnen zu, dann ließ sie sich auf den Boden sinken und lachte so laut, wie ich sie noch nie hatte lachen hören. Ich ließ mich in den Polstersessel fallen. »Das ist also das Leben, das du jetzt führst, Tilda«, sagte ich. »Mit anderen Leuten hast du anscheinend wenig zu tun. Die Abende verbringst du mit Büchern – und gelegentlich mit ein paar Krähen, was?«
    »Immerhin hab ich dich angerufen, oder? Eine junge Dame in Not sozusagen.«
    »Das ist nicht deine Art und wird’s auch nie sein.«

    »Denk was du willst.«
    Wir sahen uns einen Moment lang an. »Bevor diese Vögel hereinflogen – weißt du, was ich da gelesen habe, vielleicht schon zum zehnten Mal?«, fragte sie.
    »Ich habe noch nie etwas zehnmal gelesen. Welches Buch?«
    » In einer deutschen Pension von Katherine Mansfield.«
    »Wie weit bist du denn gekommen?«
    »Seite vier – dann war hier der Teufel los.«
    »Dann werd ich dich wieder lesen lassen.«
    »Willst du’s hören, Wyatt?«
    »Was meinst du?«
    » In einer deutschen Pension .«
    »Das ganze Buch?«
    »Ich bin bereit, wenn du willst.«
    Tilda setzte sich auf den Polstersessel rechts vom Kamin. Ich legte noch ein paar Holzscheite ins Feuer, dann stellte ich Mrs. Oleanders Stuhl vor den Kamin. Beide Stühle waren zum Kamin gerichtet, aber leicht zueinandergedreht. Als sich das Feuer beruhigte, hörten wir den Regen im Kamin zischen.
    Tilda schlug das Buch auf. »Die erste Geschichte heißt ›Deutsche beim Fleisch‹«, sagte sie. »Während ich lese, darfst du mich nicht unterbrechen, Wyatt. Ich unterbreche auch nie, wenn ich allein lese – das würde nur stören.«
    »Ich hab mir das immer schön vorgestellt, vorgelesen zu bekommen. «
    »Dann ist das jetzt dein großer Augenblick.«
    Sie rückte die Stehlampe etwas näher heran, setzte sich wieder und begann zu lesen: »Brotsuppe wurde auf den Tisch gestellt. ›Ah‹, sagte der Herr Rat, während er sich über den Tisch beugte, um einen Blick in die Terrine zu werfen. ›Das ist genau das, was ich brauche.‹«

    Warum habe ich mir diese Sätze gemerkt, Marlais?

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