Der Schlittenmacher
In den nächsten drei Stunden – so lange dauerte es mindestens – las Tilda eine Geschichte nach der anderen. Außer an »Deutsche beim Fleisch« erinnere ich mich noch an die Titel von zwei anderen – »Das Kind, das müde war« und »Die Schwester der Frau Baronin«, aber ich glaube, es waren dreizehn insgesamt.
Sie las alle Geschichten mit der gleichen Hingabe.
»Nun, das war’s«, sagte Tilda, als sie fertiggelesen hatte. »Ich sehe, du bist noch wach, Wyatt.« Sie legte das Buch auf das Sitzkissen. Eine Stille senkte sich über uns, die nicht nur daher kam, dass wir mitten in der Nacht in der Bibliothek saßen und dass das Trommeln des Regens auf dem Dach die meisten anderen Geräusche zudeckte. Nein, es war etwas anderes. Es war, wie es in einem Kirchenlied heißt, so als würden uns stumme Engel eine flüchtige Chance bieten, weil sie später nicht in der Lage wären, Gott von uns zu berichten, auch wenn sie es gewollt hätten. So als hätten Tilda und ich für kurze Zeit ein geheimes Leben angeboten bekommen, fernab von den prüfenden Blicken unserer Nachbarn in Middle Economy, einen sicheren Hafen, wo wir geschützt waren vor all den Geistern, die uns in den letzten Jahren heimgesucht hatten. Ich glaube nicht, dass irgendeine Wörterbuch-Definition von Liebe auf das zutrifft, was in jener Nacht zwischen uns passierte, aber es kann nicht alles im Wörterbuch stehen. Jedenfalls fragten wir uns nicht lange, wohin mit unseren angestauten Gefühlen. Da waren wir nun, in einem Raum, in dem wir noch nie zusammen waren. Es geschah nur dieses eine Mal, und es endete mit dem blassen Licht des neuen Tages, das durch die regennassen Fenster fiel. Kleidungsstücke flogen auf den Boden. Meine Fingerspitzen waren plötzlich nicht mehr so gefühllos. Die Schreibtischlampe brannte noch.
Marlais, würde ich mehr davon erzählen, wäre es nicht passend zwischen Vater und Tochter. Außerdem wäre es mir zu peinlich, selbst in einem Brief. Ich erwähne vielleicht so viel, dass Tilda einmal, als du sechs Monate alt warst und wir drei zusammen in der Küche saßen, über den Tisch zu mir schaute und sagte: »Damals in der Bibliothek, als wir in dem Polstersessel saßen, wir zwei. Ich wusste, dass ich unsere Tochter empfing – in dem Moment, als es geschah.«
Du bist am 27. März 1946 um zwei Minuten vor Mitternacht im Truro General Hospital zur Welt gekommen, 2900 Gramm schwer. Ich und Cornelia Tell wurden aus dem Wartezimmer hereingerufen, als du gerade eine halbe Stunde alt warst und deine Mutter dich in den Armen hielt. Du wurdest auf den Namen Marlais Constance Hillyer getauft. Marlais nach Marlais Winterhew, der Autorin des Highland Book of Platitudes . Tilda hat den Namen ausgesucht.
Deine Mutter war die Liebe meines Lebens. Ich war nicht die Liebe ihres Lebens. Du wurdest für uns beide die Liebe unseres Lebens.
DIE RÄUME ÜBER DER BÄCKEREI
Marlais, ich sitze hier an meinem Küchentisch in der Robie Street 58 und habe den Gemeindebrief vom 25. Oktober 1948 aus Middle Economy vor mir liegen, und er trägt die Überschrift: BESUCHER AUS DÄNEMARK IN MIDDLE ECONOMY.
Marcus und Uli Mohring, nunmehr offiziell dänische Staatsbürger, trafen am Freitag, den 15. Oktober, in Middle Economy ein. Nachdem du damals ungefähr zweieinhalb Jahre alt warst, wirst du dich wahrscheinlich nicht daran erinnern – oder doch? –, wie sie mit dem Bus in Great Village ankamen. Es war nur logisch, dass Tilda mich bat, für die paar Tage, die Mr. und Mrs. Mohring im Haus wohnen würden, tagsüber in der Werkstatt zu bleiben und nachts in den Räumen über der Bäckerei. Deshalb habe ich sie überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Und das war sicher das Beste für alle. Natürlich hat ihre Ankunft in der ganzen Gegend einiges Aufsehen erregt. Es weckte auch traurige Gefühle.
Bis zu der Verhandlung vor dem Friedensrichter in der Bibliothek 1942 waren Tilda, Donald, Constance, Cornelia Tell und ich die Einzigen gewesen, die Hans näher kannten. Seit damals hatten zwei Zeitungsleute versucht, über den »Mord im Krieg« in Middle Economy zu schreiben, aber niemand im Ort wollte
ihnen so viel erzählen, dass man darauf eine Geschichte aufbauen konnte. Eine der beiden, eine Journalistin namens Abigail Montrose, berichtete in einem kurzen Artikel in der Mail : »… die Einwohner dieses Dorfes am Meer begegneten meinen Fragen mit kalter Höflichkeit.« Hin und wieder kam jemand in die Bäckerei und fragte nach dem »Haus, in dem der
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