Der Schlittenmacher
das ist auch ziemlich vernünftig von ihr, weil sie damit in jeder kanadischen Stadt arbeiten könnte, wo es ein Gericht gibt, in dem viel los ist.«
»Aber warum übt sie bei uns zu Hause stenografieren?«
»Weil sie selber kein Radio hat.«
»Sie wissen aber viel über sie.«
»Ihre Tante Constance und ich sind gut befreundet, Wyatt. Sicher, auch die besten Freunde erzählen sich nicht alles – trotzdem doch eine ganze Menge. Und über Lenore Teachout höre ich so einiges.«
»Weiß Lenore das?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Egal, es wird Ihnen jedenfalls auffallen, wie groß Lenore ist. Sie war immer schon groß für ihr Alter. Moment, ich zeig Ihnen etwas.«
Cornelia Tell ging durch die Eingangstür auf die Straße hinaus, dann durch eine Tür nebenan wieder hinein und über eine Treppe in ihre Wohnung hinauf. Sie wohnte über ihrer Bäckerei, seit ihr Mann Llewyn, ein Fischer, im Meer ertrunken war – aber das war damals schon dreiundzwanzig Jahre her. Als sie in die Bäckerei zurückkam, legte sie ein Exemplar des Jahrbuchs der Grundschule von Great Village aus dem Jahr 1914 auf den Tisch. Sie blätterte all die körnigen Einzelporträts von Lehrern und Schülern und der Schulkrankenschwester durch, die beim Fahnenmast aufgenommen worden waren. »Aha!«, sagte sie, »da haben wir sie ja.« Sie legte den Finger auf ein viertelseitiges Foto von der Aufführung eines Weihnachtsspiels. »Dieses Mädchen hier, das ist Lenore Teachout mit zehn Jahren. Ihre Tante Constance hat mir das Foto gezeigt.« Ich beugte mich über das Buch und sah, dass Lenore als Kamel verkleidet war. Sie stand auf allen vieren, mit Männerschuhen als Hufe und einem Heuballen auf dem Rücken, neben den Weisen aus dem Morgenland und einer Krippe. »Sie haben sie das Kamel spielen lassen«, erläuterte Mrs. Tell, »weil sie ganz schön groß für ihr Alter war, nicht?«
»Sie sieht nicht besonders fröhlich aus«, bemerkte ich.
»Lenore war irgendwie immer unglücklich, von klein auf bis heute«, verriet mir Cornelia Tell, »obwohl sie in letzter Zeit ein bisschen weniger unglücklich zu sein scheint, und das ist doch immerhin etwas. Und überhaupt, wer sagt denn, dass ein Mensch unbedingt glücklich sein muss? Glück ergibt sich entweder oder eben nicht.«
»Danke, Cornelia, für alles, was Sie mir über Lenore Teachout erzählt haben, wo ich doch mit ihr Mittag esse«, sagte ich.
»Gern geschehen.« Sie sah, dass ich noch ein paar Bissen von meinem Scone und eine halbe Tasse Kaffee übrig hatte. »Nun, was könnte man sonst noch sagen? Also, Lenore hat ein Jahr an der Dalhousie University studiert. Die Erste in der Familie, die auf die Hochschule ging. Leider gibt es in Halifax zu viel Ablenkung. Lenore hat es jedenfalls sehr eilig gehabt, einen Studienkollegen zu heiraten, und genauso eilig hat sie’s dann gehabt, sich von ihm scheiden zu lassen, noch im selben Monat. In diesem Februar hat sie wirklich eine Menge erledigt, das muss man ihr lassen! Ich weiß noch, dass sie gesagt hat: ›Meine Studienerfolge waren wirklich nicht besonders. Aber ich habe immer die Ohren offen gehalten und alles studiert, was Männer und Frauen so denken.‹ Man erzählt sich sogar – und ich habe den Verdacht, Lenore selbst hat das Gerücht in die Welt gesetzt –, dass sie in ihrer Zeit in Halifax Tagebuch geführt hat, über tausend Seiten voll mit Gesprächen. Ich weiß nicht, wie sie das angestellt hat, aber sie hat nicht einfach nur hingehört, sondern tatsächlich mitgeschrieben!«
»Tausend Seiten, das ist schon was«, sagte ich.
»Ich habe sie einmal gefragt – Lenore, geht das den Leuten nicht auf den Wecker, wenn du einfach so jedes Wort mitschreibst, das sie reden? Und wissen Sie was? Sie war fast beleidigt, weil ich das gefragt habe. ›Cornelia‹, hat sie gesagt, ›sind Sie denn nicht dankbar, dass jemand die ganzen Gespräche aufgeschrieben hat, die in der Bibel stehen? Was wäre, wenn sich niemand die Mühe gemacht hätte? Wo wären wir dann alle miteinander?‹«
»Darüber muss ich nachdenken«, sagte ich.
»Tun Sie das mal«, meinte Cornelia Tell.
Ich zahlte für meinen Scone und den Kaffee, ging hinaus, rauchte eine Chesterfield und fuhr zum Haus zurück. In der Werkstatt war mein Onkel damit beschäftigt, Querstücke abzumessen und zuzuschneiden, während ich ungefähr eine Stunde lang Bretter abschmirgelte und mich bemühte, nicht darauf zu reagieren, wenn er wieder einmal zu mir herübersah und tief
Weitere Kostenlose Bücher