Der Schlittenmacher
legte auf und eilte die Treppe hinunter. In der Ecke, auf dem Sofa neben einer riesigen Topfpflanze, saß Cornelia und schlief, mit ihrem Mantel zugedeckt. Ihre Reisetasche stand neben ihr auf dem Boden.
Ich schüttelte Cornelia sanft wach. »Oh, Wyatt … Gott sei Dank, da bist du ja«, sagte sie. Sie setzte sich auf und nahm meine Hände in die ihren. »Unsere Tilda ist in Dänemark gestorben, Wyatt. Ganz plötzlich, aber ich weiß nicht, woran. «
»War sie krank?«
»Ich weiß nur, was in dem Telegramm steht. Tilda ist vor zwei Tagen gestorben und wird in Kopenhagen begraben.«
»Wer hat das Telegramm geschickt – und an wen?«
»Deine Tochter hat es ans Postamt geschickt. Reverend Witt wollte gerade einen Brief aufgeben. Er hat es angenommen.«
Cornelia fing an zu schluchzen, es klang erschöpft. »Weißt du, Wyatt, als sie ein Mädchen war – und sie ist ja halb bei mir in der Bäckerei aufgewachsen –, wenn ich sie so ansah, da hab ich mir immer gedacht, dass sie sicher nie von Neuschottland weggehen wird. Nicht unsere Tilda. Und jetzt ist sie für immer in Dänemark. Das zeigt wieder einmal, wie viel ich weiß – nämlich gar nichts.«
Ich habe versucht, dich irgendwie zu erreichen, Marlais. Ich habe alles Mögliche versucht, um Kontakt aufzunehmen. Das hatte ich vorher nie getan, aber jetzt tat ich es. Cornelia gab mir deine Adresse. Sind meine Telegramme angekommen? Ist mein Brief angekommen? Sie waren sicher nicht genug, aber sind sie überhaupt angekommen?
Später erfuhr ich, dass Tilda auf dem Heimweg gestorben war, nachdem sie die erste Rate für einen Kurs in Kopenhagen abgeschickt hatte, der in Dänisch und Englisch gehalten wurde und in dem sie sich zur Bibliothekarin ausbilden lassen wollte. Cornelia erzählte mir außerdem, dass Tilda wenige Wochen vor ihrem Tod im Krankenhaus gewesen sei, wegen einer Entzündung der Herzinnenwand.
Cornelia fuhr noch am selben Abend mit dem Bus nach Hause.
Am nächsten Sonntag ging ich in die Harbor Methodist Church, und während die anderen Mitglieder der Gemeinde sich die Predigt anhörten, sangen und beteten, hing ich ganz hinten in der letzten Bank meinen eigenen Gedanken nach und
hielt sozusagen eine private Trauerfeier für deine Mutter ab. Einen Moment lang kam mir die Befürchtung, ihre Todesanzeige könnte nur auf Dänisch erscheinen, in einer dänischen Zeitung. Aber dann erfuhr ich, dass Cornelia einen Nachruf geschrieben hatte, der im Gemeindebrief abgedruckt wurde. Er war schön geschrieben.
In der Kirche gab ich mir Mühe, nicht an all den scheinheiligen Schwachsinn – verzeih mir den Ausdruck – zu denken, den man normalerweise auf Begräbnissen hört, als ich ein stilles Gebet sprach: »Möge Tilda Hillyer in Frieden ruhen. Sie war der beste Mensch, den man sich vorstellen kann. Sie war schön …« – bis ich merkte, dass mein Gebet doch nicht so still war, sondern dass ich laut vor mich hin murmelte. Zu beiden Seiten rückten die Leute von mir ab.
Du warst noch auf der Welt, Marlais, weit weg, aber hier auf dieser Welt. Abgesehen von dir hatte ich aber das Gefühl, dass das Leben nichts mehr wert war, dass alles zusammengebrochen war. Nach der Kirche verbrachte ich ganze sieben Stunden auf unserem Boot und arbeitete im Hafen von Halifax. Es hatte aufgehört zu regnen. Auch der Wind war nicht mehr so stark. Wie üblich saß auf jeder Boje ein Kormoran. Ich fischte nicht viel aus dem Wasser. Einen Damenhut mit ausgefransten Federn. Ich fragte mich, ob ihn der Wind einer Ungarin davongeweht hatte, die von der Cascania an Land gegangen war. Eine Spielzeugwasserpistole. Ein Fenster mit gesprungenen Scheiben, aber unbeschädigtem Rahmen. In der Abenddämmerung sah ich am Purdy’s Wharf eine Schar Graugänse herabgleiten. Sie sind das ganze Jahr über hier. Ich folgte ihnen ans Ufer.
Das letzte Mal, dass ich mit Reese Mac Isaac sprach, war am darauffolgenden Sonntagmorgen. An diesem Tag ging ich nicht
in die Kirche. Es klopfte an meiner Zimmertür, und als ich öffnete, stand Reese vor mir, schick gekleidet wie immer.
»Ich weiß, man sieht mir mein Alter an«, sagte sie.
»Was kann ich für Sie tun, Reese?«, fragte ich.
»Jeden Sonntagvormittag besuche ich die Gräber von Katherine und Joe. Ich gehe jetzt hin. Ich hab mich gefragt, ob Sie mich wohl begleiten würden. Nur dieses eine Mal.«
Hätte ich Nein gesagt, so hätte sie mich vielleicht noch inständiger gebeten – aber vielleicht wollte ich ja, dass sie mich bittet
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