Der Schlittenmacher
gesprochen. Es war auch nicht seine Art, voreilig über Dinge zu reden. Wenn er etwas sagte, dann hatte er schon darüber nachgedacht. Sowohl über die Sache selbst als auch darüber, ob er es mir sagen sollte. Und er hat nie – kein einziges Mal – ein scharfes Wort zu Katherine gesagt. Joseph blieb immer sehr beherrscht. Und wie gesagt, Katherine war an dem Abend in einer sehr philosophischen Stimmung. Wir sprachen von der Unmöglichkeit, dass ein Mensch in seinem Alltagsleben noch ein geheimes Leben führen kann. Auch wenn dieses geheime Leben das ist, was einen am tiefsten berührt. Und glauben Sie mir, Wyatt, sie hat wirklich gelitten, weil ihr geheimes Leben sie am tiefsten berührt hat. Es ist sicher nicht leicht, so etwas zu hören, aber Sie haben mich gefragt. «
»Und Sie hatten natürlich zwei geheime Leben, nicht wahr, Reese?«, erwiderte ich.
»Ja. Beide hatten mit derselben Adresse zu tun«, antwortete Reese. »Das Haus nebenan.«
»Haben Sie an dem Abend lange mit meiner Mutter gesprochen? «, fragte ich.
»Wir haben zwei Kannen Tee getrunken und noch ein paar andere Sachen«, antwortete Reese. »Joe hatte an dem Abend sein Geschäft länger geöffnet. Also haben wir geredet und geredet, Katherine und ich. Und wenn man einmal einen Menschen findet, mit dem man wirklich reden kann, dann passiert es durchaus, dass man sich in diesen Menschen verliebt. Wir haben einander bestimmte Dinge gestanden. Es wurden keine Versprechungen gemacht. Aber wir haben einander Dinge gestanden, an denen wir auch gelitten haben. Und was mich jede Nacht meines Lebens quält, ist der Gedanke, dass Katherine in dieser Nacht Joseph alles gebeichtet hat. Es muss so gewesen sein. Sie wusste einfach nicht mehr ein noch aus. Und genauso sicher bin ich mir, dass auch Joseph alles Katherine gebeichtet hat. Sie waren zwei gute Menschen in einer furchtbaren Situation. « Reese weinte ein bisschen, dann sagte sie: »Es tut mir leid.«
»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, erwiderte ich.
»Doch, das wäre schon ein Grund«, beharrte sie. »Aber ich weiß es einfach nicht. Ich weiß nicht, was sie miteinander gesprochen haben. Und die Wahrheit ist, dass ich das mit den Brücken genauso erfahren habe wie alle anderen. Aus dem Radio. «
Ich legte den Hörer auf. Aber Reese rief mich gleich wieder an.
»Sie haben mich etwas gefragt, Wyatt«, sagte sie. »Jetzt muss ich Sie auch etwas fragen. Sie hassen mich für das, was damals passiert ist, richtig? Das ist meine Frage. Hassen Sie mich, weil Sie glauben, dass es meine Schuld war, dass Katherine und Joe von diesen Brücken gesprungen sind?«
»Kann Ihnen das nicht egal sein, ob ich Sie hasse oder nicht?«
»Ich erwarte kein Verständnis und keine Sympathie. Das habe ich gar nicht verdient. Aber ich habe eine Menge üble Briefe bekommen – die meisten davon übrigens anonym. Alles gute Christen, doch ihre Briefe verschicken sie anonym.«
»Klingt schlimm.«
»Bitte beantworten Sie meine Frage.«
»Ich habe Sie gehasst, und ich habe das gehasst, was meine Eltern getan haben. Es ist vorbei. Lassen wir’s dabei.«
»Okay. Das ist immerhin etwas. Danke.«
»Zehntausend Leute hier in Halifax haben davon gelesen. Das hat’s mir nicht gerade erleichtert, damit klarzukommen. Ehrlich gesagt weiß ich immer noch nicht, wie ich damit meinen Frieden machen soll.«
»Ich habe mich jedenfalls für Sie gefreut damals, dass Ihre Tante und Ihr Onkel Sie zu sich genommen haben. So wurden Sie wenigstens nicht von den Reportern verfolgt.«
»Ja, aber es war dort auch nicht immer einfach.«
»Ich weiß. Ich habe Zeitung gelesen. Der Mord an dem deutschen Studenten war auf Seite zwei. Der Name Ihres Onkels stand genauso drin wie der Ihre. Und ich dachte mir – mein Gott, das ist der Junge von Katherine und Joe.«
Und das war das drittletzte Mal, dass ich mich mit Reese Mac Isaac unterhalten habe.
Das vorletzte Mal war am 9. November 1962. Halifax hatte gerade einen der schlimmsten Stürme seiner Geschichte erlebt. Er dauerte gut drei Tage. Orkanartiger Wind, Hagel und Eisregen. Es wurde sogar davor gewarnt, es könnte zu Wasserhosen kommen, also zu Tornados auf dem Meer, und das war hier in der Gegend etwas Gefürchtetes. Jemand hat mir erzählt, dass 1940 ein Angehöriger des Müllsammelteams, ein Mr. Paul Syberg, Opfer einer Wasserhose wurde, die plötzlich
über den Schlepper hereinbrach, auf dem er arbeitete. Er wurde über Bord geschleudert, und selbst der Schlepper wäre beinahe
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