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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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gekentert.
    In einer etwas ruhigeren Phase in dem Sturm nützte mein Team die Gelegenheit, um ein bisschen aufzuräumen. Hermione Rexroth und ich waren beim Pier 21 im Einsatz, wo die Cascania angelegt hatte. Hermione machte mich darauf aufmerksam, wie hoch an den Schiffsrumpf die Wellen den Seetang gespült hatten.
    In ihrer Freizeit – sie war nicht verheiratet – beschäftigte sich Hermione mit der Geschichte von Pier 21 und mit Einwanderung ganz allgemein. »Das Härteste in meinen Augen«, sagte sie einmal zu mir, »und das, wofür wir uns vielleicht am meisten schämen müssen, ist, dass damals im Krieg die kanadische Regierung diejenigen Leute nicht ins Land ließ, die am schlimmsten dran waren. Das war, bevor jüdische Flüchtlinge und Waisenkinder aufgenommen wurden, mit dem Kriegswaisenprojekt von 1947. Da wurden, wenn ich mich richtig erinnere, ungefähr elfhundert jüdische Waisenkinder hereingelassen und fünfzehntausend jüdische Flüchtlinge.«
    »Das ist ja gut«, meinte ich.
    »Das schon – aber es kam verdammt spät, Wyatt. Außerdem gab es in Halifax nicht nur Heilige, das kann ich dir sagen. Wenn du zu dem Sportverein an der Ecke Gottingen und Gerrish Street gehst, siehst du vorne am Tor noch die Aufschrift: ZUTRITT FÜR JUDEN VERBOTEN. Sicher, sie haben es abgeschrubbt, aber wenn du genau hinguckst, dann erkennst du’s trotzdem. Genauso am öffentlichen Schwimmbad, Ecke Northpark und Cornwallis Street.«
    »Du meine Güte, schau dir all die Leute auf der Gangway an«, sagte ich.

    »Das sind alles Ungarn, steht in der Zeitung«, erklärte Hermione.
    »Und hör dir diesen Dudelsack an. Egal ob’s regnet oder schneit – seit wie vielen Jahren jetzt schon? Ein Dudelsackpfeifer ist immer da und begrüßt jedes Schiff.«
    »Ich wette, diese Ungarn haben noch nie in ihrem Leben einen Dudelsack gehört.«
    Ich wusste nicht, warum, aber ich hatte an diesem Tag mit furchtbaren Kopfschmerzen zu kämpfen, die manchmal so schlimm waren, dass ich alles verschwommen sah. Einmal riss ich die Hände hoch, um eine Möwe abzuwehren, obwohl da überhaupt nichts war. Nach diesem Vorfall hätte ich eigentlich nach Hause gehen sollen. Doch ich sagte nur: »Hermione, machen wir eine Stunde Pause, ja?« Wir fuhren zu einem Schlepper, der die Cascania eskortiert hatte, kletterten an Deck und tranken heißen Tee mit der Vier-Mann-Crew, die wir gut kannten – eine Wohltat nach der beißenden Kälte draußen. Vom Ruderhaus verfolgten wir, wie die Einwanderer mit ihren Koffern in den Händen und ihren Kindern im Schlepptau die Gangway hinunterschritten. Es muss an den Kopfschmerzen gelegen haben, vielleicht auch am Schneeregen, der die Sicht behinderte, und an dem Dampf aus der Kombüse des Schleppers, ich weiß nicht, was schuld war – aber auf einmal glaubte ich deine Mutter langsam über die Gangway gehen zu sehen, zusammen mit einem Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren, also so alt, wie du damals warst.
    Natürlich wart ihr es nicht, du und Tilda. Natürlich nicht, Marlais. Es war ein Trugbild, könnte man sagen. Hermione bemerkte jedenfalls, wie ich dreinsah. »Wyatt«, sagte sie, »du siehst irgendwie nicht gut aus, mein Freund.« Ich sagte, dass ich zum Arzt gehen würde. Ich legte mich unten auf eine Koje
und deckte mich mit einer groben Decke zu. Glaub mir, du musst schon wirklich hundemüde sein, um auf einem Schlepper neben einem riesigen Schiff schlafen zu können, während ringsum Hunderte Seemöwen kreischen und die Maschinen des Schleppers laufen. Aber ich habe geschlafen. Ich wachte nicht einmal auf, als der Schlepper am Purdy’s Wharf anlegte. Hermione musste mich wecken. Sie stieg in unser Boot hinunter und fuhr ans Ufer, während ich vom Schlepper an Land ging. Auch auf dem Heimweg verschwand dieses Trugbild einfach nicht aus meinem Kopf. Weißt du, Marlais, es war schon sehr merkwürdig.
    Ich wohnte immer noch im Homestead Hotel, und als ich in die Lobby kam – ich sah zweifellos mehr wie ein durchnässter Hund aus, nicht wie ein Mensch –, blickte ich weder nach links noch rechts und schritt sofort zum Aufzug, um zu meinem Zimmer hinaufzufahren. Sonst stieg ich immer die Treppe hinauf. Ich badete gleich, dann zog ich Hemd und Hose an, die ich selbst gebügelt hatte. Als das Telefon klingelte, war es Reese Mac Isaac. »Wyatt«, sagte sie etwas beunruhigt, »haben Sie’s denn nicht bemerkt? Ihre Freundin Cornelia Tell ist in der Lobby. Sie wartet schon mindestens fünf Stunden, Wyatt.« Ich

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