Der Schlitzer
Über mein Gesicht wehte ein eisiger Hauch, der mich frösteln ließ. Da hatte ich wieder den Eindruck, einen Geist in meiner Nähe zu haben.«
»Was geschah weiter?«
»Nichts. Das Gespenst, der Geist oder auch der Mann verschwand. Ich habe ihm nachgeschaut, und ich habe ihn nicht einmal gehört. Er ging, aber es war kein Laut zu hören. Er glitt einfach dahin, als wollte er die Welt der Lebenden verlassen und eintauchen in die der Toten. Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Später erfuhr ich dann, daß ich nicht die einzige gewesen bin, die ihn gesehen hat. Auch andere Zeugen hat es auf dem Friedhof gegeben.«
»Immer nur dort?« Meine Frage galt Bill Conolly.
»Ja, John, nur dort. Jedenfalls habe ich nichts anderes erfahren, aber das ist ja egal. Ich denke schon, daß dieser Friedhof einigermaßen wichtig ist.«
»Warum?«
Bill wunderte sich. »Das fragst du? Für mich ist er so etwas wie ein Auslauf-oder Spielplatz für den Geist. Da kommt er hin, da kann er sich austoben, da kann er vor allen Dingen gewisse Sachen ausprobieren — bis hin zum Mord.«
Die letzten Worte hatten Shelly Wagner aufgeschreckt. »Mord?« hauchte sie.
»Ja, Shelly. Heute ist auf dem Friedhof ein Mord passiert. Wir gehen davon aus, daß Ihr Geist oder Ihr Gespenst der Täter war. Sie haben damals Glück gehabt.«
Sie schluckte und preßte für einen Moment beide Hände flach gegen die Wangen. »Das ist ja grauenhaft, furchtbar!« Dann nickte sie.
»Wahrscheinlich mit diesem hellen Messer — oder?«
»Das kann sein.«
Sie bekam das kalte Grausen und umklammerte ihre Knie. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. »Wer war denn die Frau?«
»Eine ältere Person, die Abschied von ihrem Mann nehmen wollte, der in der Leichenhalle aufgebahrt wurde.«
»Dort hat er sie getötet?«
»Leider.«
»Das ist ja noch schrecklicher«, flüsterte sie und schaute Bill Conolly dabei an. »Furchtbar. Ich… ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll? In der…«
»Gar nichts, Shelly, denken Sie daran, daß Sie aus dem Schneider, aus der Gefahrenzone sind.«
Die beiden redeten noch miteinander. Mir aber gingen ganz andere Dinge durch den Kopf. Shelly Wagner hatte die Gestalt gesehen, ich kannte sie ebenfalls. Es mußte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir von dem Killer keine Beschreibung bekamen. Wir konnten unser Wissen zusammenlegen, an das wir uns noch erinnerten. Aus diesen verschiedenen Teilen würde sich schon ein Bild ergeben. Früher hatte man einen Zeichner bemühen müssen. Heute gab es dafür besondere Computerprogramme, die hervorragende Bilder auf den Monitor zaubern konnten.
Ich sprach Shelly Wagner auf das Thema an. Sie überlegte zunächst, dann erklärte sie sich einverstanden. »Aber glauben Sie denn, daß es etwas bringt?«
»Das werden wir sehen.«
Auch Suko und Bill fanden die Idee gut. Gemeinsam standen wir auf und verließen das Büro.
»Wo geht es denn jetzt hin?« fragte Shelly Wagner.
Sie hatte sich an Bill gewandt, denn ich stand am Telefon und sprach mit den Kollegen von der Fahndung.
»In den Keller, glaube ich.«
Shelly schluckte nur.
***
Die Welt der Bildschirme, der summenden Geräte und der leise hackenden Drucker. Ein wenig futuristisch sieht eine derartige Zentrale aus, und auch Shelly Wagner gehörte nicht zu den Menschen, die hier ein und aus gingen, was ich von ihrem Gesicht deutlich ablesen konnte.
»Es gefällt Ihnen hier nicht besonders, wie?«
»Da haben Sie recht, Mr. Sinclair.« Sie schob die Unterlippe vor. »Alles was ich hier sehe, ist so kalt und unmenschlich. Nein, das ist nicht meine Welt. Man kommt sich so abgeschlossen vor, als wäre man ganz allein.«
»Und die Kollegen?« fragte ich.
»Sind beinahe wie Roboter.« Shelly bekam eine Gänsehaut. »Sie bewegen sich so eckig und gleichzeitig auch zielsicher. Als wären sie selbst programmiert worden.« Sie hob die Schultern. »Wahrscheinlich waren sie mal anders. Aber das lange Arbeiten hier unten scheint auf die Personen abzufärben.«
Ich mußte lachen, denn so pessimistisch wie Shelly sah ich die Lage der Kollegen nicht. »Ich kann Ihnen versichern, Miß Wagner, auch unter den Computerleuten gibt es lustige Typen. Es ist nicht alles so, wie es beim ersten Anblick oft den Anschein hat.«
»Nun ja, Sie kennen sich eben besser aus.«
»Das allerdings.«
Der Spezialist wartete schon. Er hieß Jack Norman, war kleinwüchsig und hatte strohblonde Haare. Er fiel nicht nur durch sein
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