Der Schlüssel zum Tode Kommissar Morry
Punkt hatte er sich getäuscht. Schon nach wenigen Sekunden wurde es Hell im Korridor. Leichtfüßige Schritte näherten sich der Tür. Eine Sperrkette klirrte, und gleich darauf stand ein Mädchen vor ihm, wie man es heute nur noch in Bilderbüchern findet.
Sie trug einen großblumigen Seidenmantel, der so locker zugeknöpft war, daß man sämtliche Reize ihrer wohlgeformten Figur ahnen konnte. Ihr Gesicht wirkte, wenn es auch in diesem Moment herb und verschlossen war, reizvoll und anziehend. Es war dunkelgetönt wie bei einer exotischen Schönheit und von dichten, schwarzen Locken umrahmt. Die Augen waren groß, dunkel und seltsam unergründlich.
„Ah, sieh mal an“, sagte sie spöttisch. „James Green kehrt endlich wieder in die Heimat zurück. Wie erfreulich, daß du dich noch an meine Adresse erinnert hast? Willst du bleiben? Oder kommst du nur auf einen kurzen Besuch . . . ?“
Jetzt erst entdeckte sie die Schlüssel in seiner Hand. Ein bitteres Lächeln spielte für den Bruchteil einer Sekunde um ihre weichen Lippen. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Sie trat einen Schritt zurück.
„Warum läutest du denn, wenn du die Schlüssel hast?“, fragte sie mit ihrer vollen, dunklen Stimme. „Du bist jetzt mein neuer Herr und Gebieter, wie? Ist es nicht so? Du hast sicher Mack Rupper getroffen?“
Ralph Condray blickte sie noch immer schweigend an. Er glaubte, in seinem ganzen Leben noch nie einem reizvolleren Mädchen begegnet zu sein. Ursprünglich hatte er ihr nur die Schlüssel übergeben und den Irrtum aufklären wollen. Aber daran dachte er im Augenblick gar nicht mehr. Das Abenteuer war viel zu verlockend, als daß er es mit ein paar nüchternen Worten zerstört hätte.
Die Gedanken gingen rasch hinter seiner Stirn auf und ab. Mack Rupper hieß also dieser Bursche, der mir in der Bahnhofshalle über den Weg lief, sinnierte er. Ein Gauner, der vor der Polizei flüchten mußte. Ein schäbiger Halunke, der seine Freundin einfach im Stich ließ. Wie merkwürdig, daß die Frauen gerade auf solche Strolche versessen sind.
„Willst du nicht hereinkommen?“, fragte Maud Ruby tonlos. Sie war nicht sehr erfreut über seinen Besuch, das sah man ihr an. Aber sie fügte sich. Sie schien es gewöhnt zu sein zu gehorchen. Und wenn ihr Mack Rupper diesen Mann ins Haus schickte, so war daran eben nichts zu ändern. Sie mußte ihn bei sich aufnehmen.
Sie ging ihm voraus und trug seinen Koffer. Als sie das schwere Gepäckstück im Wohnzimmer absetzte, fiel ihr Blick auf das Namensschild. „Ralph Condray“, las sie murmelnd. Eine steile Falte kerbte sich in ihre glatte Stirn. „Ich verstehe“, fügte sie leise hinzu. „Du hast im Ausland deinen Namen geändert, wie? Es ist sicherer, nicht wahr? Wie willst du in Zukunft von mir genannt werden? James? Oder Ralph?“
„Ich heiße Ralph Condray“, sagte der Besucher, und es waren eigentlich die ersten Worte, die er zu ihr sprach. „Wir wollen es bei diesem Namen lassen, bitte.“
Maud Ruby horchte verwundert seiner Stimme nach. Sie klang weich und warm. Früher, so erinnerte sie sich, hatte er gekrächzt wie eine Rabe. Manchmal hatte er auch nur gelallt, wenn ihm der Rausch die Zunge gelähmt hatte. Jetzt redete er, als hätte er auf der Universität Oxford studiert.
Maud Ruby blickte ihn scheu und forschend an. Sie mußte sich eingestehen, daß er sich sehr zu seinem Vorteil verändert hatte. Sein Gesicht war markant und männlich geworden; die Spuren des Lasters waren daraus geschwunden. Die Augen blickten klar und zuversichtlich. Früher waren sie immer rot und blind gewesen vom vielen Gin.
„Setz dich doch“, sagte sie spröde. „Du tust auf einmal reichlich fremd. Im Ausland haben sie dir scheinbar tadellose Manieren beigebracht.“
Ralph Condray ließ sich in dem nächsten Sessel nieder. Er stellte fest, daß die bescheidene Stube sauber und ordentlich aufgeräumt war. Auf dem breiten Sofa lagen selbstgehäkelte Kissen. An den Wänden hingen ein paar billige Öldrucke.
„Willst du etwas essen?“, fragte Maud Ruby kühl. „Früher hast du immer nur die Schnapsflasche gewollt. Wie ist es heute?“
Ralph Condray hob die Schultern. „Ich stelle keine großen Ansprüche“, sagte er verlegen. „Ein Glas Bier und ein Sandwich würden mir genügen.“
Maud Ruby ging hinaus in die Küche und kehrte kurz nachher mit einem vollen Glas und einem Teller zurück. Sie tat alles unfroh und gehemmt. Ein geheimnisvoller Zwang schien ihre Bewegungen zu
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