Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
Brandmarken. Strom. Sie ist gefoltert worden.« Vorsichtig drehte sie den Kopf zur Seite, öffnete den Mund und holte tief Luft. »Der fehlende Finger steckt mit dem Nagel zum Rachen weisend in der Mundhöhle. Die Zunge ist blutig gebissen. Sie muss geschrien haben wie …« Sieverschluckte die letzten beiden Worte, richtete sich auf. »Bei Gott, so etwas habe ich bisher nur auf Lehrgängen gesehen, wenn es um die Mafia ging oder um Geheimdienste. Oder Afrika. Da gibt es ebenfalls keine Grenzen der Grausamkeit.«
Fran drehte sich nicht um. Sie ging in die Knie, starrte auf die Linien, schaltete ihre Gefühle aus, schaltete ihr Denken aus. Wie Laub, das von einer leichten Brise in eine andere Ordnung gebracht wurde, begannen sich die Linien zu formieren. Das hatte sie auf dem kleinen Foto nicht erkennen können. Es gab einige, die nur dazu dienten, dem Betrachter das Erkennen zu erschweren, es gab andere, die sich zusammenfanden und alle waren sauber und ordentlich in die Haut eingeritzt worden. Da war keine Wut zu spüren, kein Mitleid, nur Berechnung. Der Rücken dieses Mädchens war eine Botschaft, daran zweifelte Fran keine Sekunde. Eine Botschaft an jemanden, der sie entschlüsseln konnte. Sie konnte die Symbole entschlüsseln: das auf dem Kopf stehende Kreuz und darin eingearbeitet das Zeichen der Church of Satan, einer Sekte aus den USA . Sie sprang auf, fuchtelte mit den Armen.
»Einen Feldstecher, ich brauche einen Feldstecher, hat denn niemand einen Feldstecher?« Ihre Stimme überschlug sich, ein junger Polizeikommissar hielt ihr ein Fernglas entgegen, sie riss es ihm aus der Hand, setzte es an die Augen. »Wo bist du, du Mistkerl«, murmelte sie. »Du bist verdammt schlau, also bringst du Wasser zwischen uns, und du hast mit Sicherheit ein Fernglas allererster Klasse. Du willst uns zeigen, dass du besser bist als wir. Du zeigst uns deinen Stinkefinger, du willst deinen Triumph genießen.«
Sie nahm das Nordufer ins Visier, etwa dreihundert Meter Luftlinie über das Wasser, wo bereits an die hundert Gaffer standen, die meisten bewaffnet mit ihren Digitalkameras, einige mit Spiegelreflexkameras und leistungsstarken Objektiven, wahrscheinlich Journalisten. Ohne das Glas abzusetzen, brüllte sie den Beamten zu, sie sollten verdammt noch mal Sichtblenden aufstellen! Und sie sollten sofort die Gaffer am Nordufer filmen, am besten bei allen die Personalien feststellen, sofort. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Sie schwenkte ein wenig nach rechts. Auf einem Baum. Ein Mann, ganz in Schwarz, das Gesicht nicht zu erkennen, vermummt, sein Fernglas auf sie gerichtet wie ein Gewehr. Das musste er sein. Das Phantom. Sie musste ihn aufhalten.
»Senior, gottverdammt, ich habe ihn, am Nordstrand auf einem Baum, holt ihn euch, lass Solig und seine Leute von der Leine.«
Senior schrie ein paar Befehle, aber Fran sah, dass es zu spät war.
Das Phantom winkte ihr zu, sprang vom Baum und sprintete los, verschwand im Wald. Sie würden ihn nicht erwischen.
Fran ließ das Fernglas sinken, fühlte sich erschöpft wie nach einem Zehn-Kilometer-Lauf. Sie drehte sich um, Böhrerjan, ebenfalls mit einem Fernglas in der Hand, stand einen Meter rechts von ihr.
»Haben Sie ihn gesehen?«, fragte Fran.
»Ja. Woher wussten Sie …«
Fran schloss kurz die Augen. »Helena ist eine Botschaft an uns. Ich bin die Übersetzerin. Es sind Symbole, die nur Eingeweihte kennen. Zuerst das Henkelkreuz. Das Ankh oder Anch. Es ist ein satanisches Symbol, aber auch eine altägyptische Hieroglyphe. Es steht für das körperliche Leben, aber auch für das Leben im Jenseits. Es taucht zweimal auf. Dazwischen steht das Zeichen für Tod. Leben – Tod – Jenseits. Und hier …«
»Woher wussten Sie, dass er in der Nähe ist?« Böhrerjan funkelte Fran an.
»Er hat den Ablageort so öffentlich gewählt, damit er unsohne Gefahr beobachten konnte. Er hat seine Deckung verlassen. Er wollte sichergehen, dass wir seine Botschaft erhalten haben.«
Böhrerjans Körper bebte kurz. Er hob eine Hand. »Wir treffen uns in zwanzig Minuten in der Festung. Große Lagebesprechung. Wir drehen am Nordufer jeden Stein um. Während der Fahrt bringen Sie mich auf den Stand der Dinge.« Er reichte ihr eine Karte mit seiner Mobilnummer, rieb sich die Augen und senkte seine Stimme. »Ach ja, Frau Miller, noch eine Kleinigkeit. Ich werde offiziell den Fall abgeben, aber inoffiziell werde ich diese Ermittlungen leiten, und es gibt nichts, das
Weitere Kostenlose Bücher