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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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hätten sie sich verirrt. Und so war es auch, bis fünfzig Meter vor ihnen plötzlich die Silbertürme der Mühle zwischen den Palmen auftauchten.
    Oder sie saßen in der Erntezeit jeweils zu zweien auf riesigen kettengetriebenen Mähdreschern und sahen zu, wie das Dreschwerk vor ihnen Körner und Wolken von Insekten aus dem Reis schlug. Stickig heiße Luft stand unter dem niedrigen Himmel. Brettflache Felder, die sich in den Mangrovensümpfen verloren. Mangrovensümpfe, die sich im Meer verloren.
    Doch heute empfand der Große Entscheider auf seinem einsamen Pfad alles, was er sah, als Beunruhigung und schlechtes Vorzeichen: die abweisenden Stacheldrahtverhaue um die amerikanischen Munitionsdepots, die ihn an Louisas Vater erinnerten, die vorwurfsvollen Schilder mit Aufschriften wie »Jesus ist unser Herr«, die Pappkartonhütten der Zugewanderten auf allen Hängen: wartet nur, bald komme ich zu euch.
    Und nach diesem Elend das verlorene Paradies von Pendels zehnminütiger Kindheit. Wogende Landstriche roter Devon-Erde wie beim Kinderheim in Okehampton. Englische Kühe, die ihn aus Bananenanpflanzungen anglotzten. Nicht einmal Haydn vom Kassettenspieler vermochte ihn vor ihrer Melancholie zu retten. Auf der Zufahrt zur Farm fragte er sich, wann er Angel das letztenmal gesagt hatte, er solle endlich diese verdammten Schlaglöcher beseitigen. Der Anblick von Angel selbst, in Reitstiefeln, Strohhut und goldenen Halskettchen, steigerte seine Wut noch mehr. Sie fuhren zu der Stelle, wo der Nachbar, die Gesellschaft mit Sitz in Miami, mit einem Graben Pendels Fluß abgeleitet hatte.
    »Soll ich Ihnen was sagen, Harry, mein Freund?«
    »Nun?«
    »Was dieser Richter getan hat, ist unmoralisch. Wenn wir hier in Panama jemanden bestechen, erwarten wir Loyalität von ihm. Und wissen Sie, was wir sonst noch erwarten, mein Freund?«
    »Nein.«
    »Abgemacht ist abgemacht, das erwarten wir. Keine Nachträge. Keine Repressalien. Keine weiteren Ansprüche. Der Kerl ist unsozial, sage ich.«
    »Und was sollen wir nun machen?« fragte Pendel.
    Angel hob zufrieden die Schultern wie jemand, der am liebsten schlechte Neuigkeiten verkündet.
    »Sie wollen meinen Rat, Harry? Ganz offen? Als Ihr Freund?«
    Sie hatten den Fluß erreicht. Die Helfershelfer des Nachbarn am Ufer gegenüber nahmen von Pendel keine Notiz. Der Graben war ein Kanal geworden. Das Flußbett unterhalb war ausgetrocknet.
    »Verhandeln Sie, Harry, das ist mein Rat. Schreiben Sie Ihre Verluste ab, arrangieren Sie sich. Soll ich mich mal bei denen umhören? Mit ihnen ins Gespräch kommen?«
    »Nein.«
    »Dann gehen Sie zu Ihrer Bank. Ramón ist ein zäher Bursche. Der kann die Verhandlungen für Sie führen.«
    »Woher kennen Sie denn Ramón Rudd?«
    »Den kennt doch jeder. Hören Sie, ich bin nicht bloß Ihr Verwalter, okay? Ich bin Ihr Freund.«
    Aber Pendel hat keine Freunde, außer Marta und Mickie und vielleicht noch Mr. Charlie Blüthner, der zehn Meilen weiter an der Küste lebt und ihn zum Schach erwartet.
     
    »Blüthner, der mit dem Klavier?« fragte Pendel den lebenden Benny vor Jahrhunderten, als sie am Hafen von Tilbury im Regen standen und den rostigen Frachter betrachteten, der den entlassenen Sträfling zur nächsten Etappe seines mit Mühe beladenen Lebens bringen sollte.
    »Ganz recht, Harry, und er steht in meiner Schuld«, antwortete Benny, und seine Tränen vermischten sich mit dem Regen. »Charlie Blüthner ist der Lumpenkaiser von Panama, und er wäre nicht da, wo er heute ist, wenn Benny nicht für ihn geschwiegen hätte, wie du für mich geschwiegen hast.«
    »Hast du ihm seine Sommerkleider verbrannt?«
    »Schlimmer, Harry. Und er hat es niemals vergessen.« Zum ersten- und letztenmal in ihrem Leben nahmen sie einander in die Arme. Auch Pendel weinte, wußte aber nicht genau warum, denn als er die Gangway hochschlich, hatte er nur einen Gedanken: Ich bin raus, ich komme nie mehr zurück.
    Und Mr. Blüthner hielt, was Benny versprochen hatte. Kaum war Pendel in Panama an Land gegangen, brachte ihn ein Chauffeur in einem kastanienbraunen Mercedes von seiner erbärmlichen Unterkunft in Calidonia zu Blüthners stattlicher Villa; sie lag inmitten sorgfältig gepflegter Ländereien mit Blick auf den Pazifik, es gab dort Fliesenböden und Ställe mit Aircondition, Gemälde von Nolde und angeleuchtete Zeugnisse von nicht existierenden amerikanischen Universitäten mit imposanten Namen, die Mr. Blüthner zu ihrem hochverehrten Professor, Doktor,

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