Der Schneider
kannst den besten Ascot-Anzug nehmen, Jagdhosen feinster Qualität samt den Stiefeln dazu. Das ganze Zeug war nichts im Vergleich zu unseren Wehrmacht-Klamotten, jedenfalls bis Stalingrad, danach ist ja alles den Bach runtergegangen.«
Von Deutschland gelangt Benny in den Osten Londons, in die Leman Street, und baut dort mit seiner Familie eine Werkstatt auf; zu viert in einem Zimmer wollen sie die Bekleidungsindustrie im Sturm erobern, damit er nach Wien gehen und an der Oper singen kann. Schon jetzt ist Benny ein Anachronismus. Ende der vierziger Jahre sind die meisten jüdischen Schneider längst nach Stoke Newington und Edgware aufgestiegen und betreiben ein weniger bescheidenes Gewerbe. An ihre Stelle sind Inder, Chinesen und Pakistani gerückt. Benny läßt sich nicht abschrecken. Bald ist das East End sein Lwow und die Evering Street die beste Adresse Europas. Und dort, in der Evering Street, stößt ein paar Jahre später – soviel hat Pendel erfahren dürfen – Bennys älterer Bruder Leon mit seiner Frau Rachel und mehreren Kindern dazu, eben derselbe Leon, der aufgrund besagten Ausbruchs eine achtzehnjährige irische Hausangestellte schwängert, die den Bastard dann Harry nennt.
Pendel fährt in die Ewigkeit. Mit müden Augen folgt er den verwischten roten Sternen vor ihm, immer dicht hinter seiner Vergangenheit her. Beinahe lacht er im Schlaf. Die Entscheidung ist dem Vergessen übergeben, aber jede Silbe und jeder Ton von Onkel Bennys Monolog wird eifersüchtig im Gedächtnis aufbewahrt.
»Warum Rachel deine Mutter überhaupt ins Haus gelassen hat, wird mir immer ein Rätsel bleiben«, sagt Benny und schüttelt den Homburg. »Man mußte kein Schriftgelehrter sein, um zu sehen, daß sie das reine Dynamit war. Unschuldig oder tugendhaft, das stand nicht zur Debatte. Sie war einfach eine brünstige, ziemlich dumme Schickse kurz vor dem Erwachsenwerden. Der kleinste Schubs, und es war um sie geschehen. Das war alles schon abzusehen.«
»Wie hieß sie?« fragt Pendel.
»Cherry, die Kirsche«, stöhnt sein Onkel wie ein Sterbender, der sein letztes Geheimnis verrät. »Eine Kurzform von Cherida, glaube ich, aber ihre Geburtsurkunde habe ich nie gesehen. Teresa, Bernadette oder Carmel hätte besser zu ihr gepaßt, aber sie hieß nun einmal Cherida. Ihr Vater war ein Maurer aus dem County Mayo. Die Iren waren noch ärmer als wir, deshalb hatten wir irische Hausmädchen. Wir Juden werden nicht gerne alt, Harry. Bei deinem Vater war es nicht anders. Weil wir nicht an den Himmel glauben. Wir stehen schon lange in Gottes langem Korridor, aber daß wir in Gottes Hauptsaal mit all seiner Pracht vorgelassen werden, darauf warten wir noch immer, und nicht wenige von uns bezweifeln, daß wir jemals vorgelassen werden.« Er beugt sich über den Eisentisch und packt Pendels Hand. »Harry, hör mir zu, mein Sohn. Juden bitten nicht Gott, sondern die Menschen um Verzeihung, und das ist hart für uns, denn der Mensch ist ein schlimmerer Gegner als Gott jemals sein kann. Und jetzt, Harry, bitte ich dich um Verzeihung. Erlösung kann ich noch auf dem Sterbebett erlangen. Verzeihung, Harry, kannst nur du allein mir gewähren.«
Pendel wird Benny alles geben, was er verlangt, wenn er nur die Sache mit dem Ausbruch genauer erklärt.
»Es war ihr Geruch, hat dein Vater mir erzählt«, fährt Benny fort. »Er hat sich vor Zerknirschung die Haare gerauft. Sitzt vor mir, wie du jetzt vor mir sitzt, nur ohne diese Gefängnissachen. ›Wegen ihres Geruchs habe ich den Tempel über mir zum Einsturz gebracht‹, sagt er. Dein Vater war ein frommer Mann, Harry. ›Sie hat vorm Kamin gekniet, und ich habe ihre reizende Weiblichkeit gerochen, keine Seife und ungewaschen, Benny, nichts als die natürliche Frau. Der Geruch ihrer Weiblichkeit hat mich überwältigt.‹ Wäre Rachel nicht bei den Töchtern der jüdischen Reinheit am Southend Pier zum Tanzkränzchen gewesen, wäre dein Vater nie zu Fall gekommen.«
»Aber er ist gefallen«, treibt Pendel ihn an.
»Harry, unter Tränen aus katholischen und jüdischen Schuldgefühlen, unter Ave Marias und Oi wejs und Was-wird-aus-mir-werden von allen Seiten hat dein Vater die Kirsche gepflückt. Betrachte es als einen Akt Gottes, ich kann es nicht, aber du besitzt die Chuzpe der Juden und die Schmeichelzunge der Iren, wenn du nur die Schuldgefühle loswerden könntest.«
»Wie hast du mich aus dem Waisenhaus bekommen?« will Pendel wissen, er schreit beinahe, so wichtig ist es
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