Der Schneider
ihm.
Irgendwo in seinen verschwommenen Erinnerungen an die Kindheit, an die Zeit, bevor Benny ihn da herausholte, gibt es das Bild einer dunkelhaarigen, Louisa nicht unähnlichen Frau, die auf allen Vieren einen spielplatzgroßen Steinfußboden schrubbt, unter den Augen einer Statue vom Guten Hirten in einem blauen Morgenmantel und mit Seinem Lamm.
Pendel auf der Zielgeraden. Vertraute Häuser, längst schlafen gegangen. Die Sterne vom Regen gewaschen. Der Vollmond vor seinem Gefängnisfenster. Sperrt mich wieder ein, denkt er. Ins Gefängnis geht man, wenn man sich vor Entscheidungen drücken will.
»Harry, ich war einfach großartig. Diese Nonnen waren hochnäsige Französinnen und hielten mich für einen Gentleman. Ich hatte mich in Schale geworfen, mit allem Pipapo: einen grauen Anzug aus dem Schaufenster, eine von Tante Ruth ausgewählte Krawatte, dazu passende Socken, handgefertigte Schuhe von Lobb in St. James’, die schon immer mein kleines Laster waren. Aber ohne Großtuerei, die Hände an den Hosennähten, den Sozialismus säuberlich verpackt.« Denn abgesehen von seinen unzähligen anderen positiven Eigenschaften ist Benny ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Sache des Proletariats und glaubt an die Menschenrechte. »›Verehrte Schwestern‹, sage ich, ›ich verspreche Ihnen: Der kleine Harry soll ein gutes Leben haben, und wenn ich dabei draufgehe. Harry soll unsere Mizwa sein. Sie sagen mir, bei welchen klugen Männern ich ihn unterrichten lassen soll, und ich kleide ihn in ein weißes Hemd und gebe ihn auf der Stelle dorthin. Ich zahle das Schulgeld für die Schule Ihrer Wahl, er bekommt ein Grammophon und nur die beste Musik zu hören und ein Familienleben, von dem ein Waisenkind nur träumen kann. Lachs zum Essen, idealistische Konversation, ein eigenes Zimmer, eine Daunenmatratze.‹ Damals war ich auf dem aufsteigenden Ast. Mit Lumpen wollte ich mich nicht mehr abgeben, es ging nur noch um Golfclubs und Fußbekleidung, und der Palast in Umbrien war schon in Reichweite. Wir glaubten, spätestens in einer Woche Millionäre zu sein.«
»Und wo war Cherry?«
»Weg, Harry, weg«, sagt Benny mit tragisch gesenkter Stimme. »Deine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, und wer kann ihr einen Strick daraus drehen? Eine Tante im County Mayo schrieb uns, ihre arme Cherry sei völlig erschöpft von all den Gelegenheiten, die ihr die Schwestern geboten hätten, sich von ihren Sünden reinzuwaschen.«
»Und mein Vater?«
Benny gerät wieder in Verzweiflung. »Auf dem Friedhof, Junge«, sagt er und wischt sich die Tränen ab. »Dein Vater, mein Bruder. Dort wo ich liegen sollte, nach all dem, wozu ich dich angestiftet habe. Meiner Meinung nach vor Scham gestorben, so wie ich beinahe auch jedesmal, wenn ich dich hier sehe. Aber diese Sommerkleider haben mich ruiniert. Es gibt keinen deprimierenderen Anblick auf der Welt als fünfhundert unverkaufte Sommerkleider im Herbst, das kann dir jeder Schlemihl bestätigen. Tagtäglich hat mich der Teufel mit der Versicherungspolice in Versuchung geführt. Ich bin mir wie geknebelt vorgekommen, nicht anders, Harry, und schlimmer noch, ich habe dich mit der Fackel losgeschickt.«
»Ich werde die Lehre machen«, sagt Pendel beim Glockenzeichen, um ihn aufzumuntern. »Ich werde der beste Schneider der Welt. Sieh dir das mal an.« Und er zeigt ihm ein Stück Gefängnistuch, das er im Lager geschnorrt und nach Maß zugeschnitten hat.
Beim nächsten Besuch schenkt ihm Benny, von Schuldgefühlen geplagt, eine in Zinn gerahmte Ikone der Jungfrau Maria, die ihn, wie er sagt, an seine Kindheit in Lwow erinnert, an die Tage, wenn er sich aus dem Ghetto schlich, um den Gojim beim Beten zuzusehen. Und noch heute steht sie bei Pendel in Bethania, neben dem Wecker auf dem Rattantisch an seinem Bett, und sieht mit ihrem verblaßten irischen Lächeln zu, wie er sich die schweißgetränkte Gefängniskluft vom Leib reißt und zu Louisa ins Bett kriecht, um ein wenig an ihrem schuldlosen Schlaf teilzuhaben.
Morgen, dachte er. Morgen sag ich’s ihr.
»Harry, bist du das?«
Mickie Abraxas, der große Untergrundrevolutionär und heimliche Held der Studentenschaft, morgens um zehn vor drei bei klarem Verstand betrunken: Er schwört bei Gott, daß er sich umbringen wird, weil seine Frau ihn rausgeworfen hat.
»Wo bist du?« fragte Pendel, im Dunkeln lächelnd, denn trotz allem Ärger, den er verursachte, war Mickie auf immer sein Zellengenosse.
»Nirgendwo. Ich
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