Der Schnupfen
und den Blaustrümpfen in Perücken fühlte ich mich ein wenig wie ein verirrter Besucher und ein wenig wie der Gastgeber, weil ich ja Barths Dauergast war und zum Teil die Honneurs des Hauses machte. Ich mußte mich ihnen vorstellen, ich, geschoren und rasiert wie ein alter Scout. Weder herrschte zeremonielle Steifheit noch ihr übleres Gegenteil, die welterschütternde Großtuerei der In-
tellektuellen. Übrigens waren die Maoisten seit den letzten Vorgängen in China irgendwie verschwunden. Ich bemühte mich, mit allen ins Gespräch zu kommen, sie waren schließlich erschienen, um einen verschnupften Astronauten und gleichzeitig bis auf weiteres reisenden Detektiv kennenzulernen. Die sorglose Unterhaltung wandte sich zunächst den Leiden der Welt zu. Eigentlich war es keine Sorglosigkeit, Vielmehr ein Wegschieben der Verantwortung, denn die jahrhundelange Sendung Europas war vergangen, und diese Diplomierten von Nanterres und von der Ecole Supérieure begriffen das besser als ihre Landsleute. Europa hatte die Krise nur wirtschaftlich überstanden. Die Prosperity war zurückgekehrt, aber ohne ein gutes Selbstgefühl. Es handelte sich hier nicht um die Angst des am Krebs Operierten vor den Metastasen, sondern um das Wissen, daß der Geist der Geschichte fortgegangen sei, und wenn er wiederkäme, dann gewiß nicht hierher. Frankreich vermochte nichts, darum konnten sie sich ungezwungen mit den Leiden der Welt beschäftigen, sie waren ja von der Bühne in den Zuschauerraum gestiegen. MacLuhans Prophezeihungen erfüllen sich, aber umgekehrt, wie das mit Prophezeihungen zu sein pflegt. Es entsteht sein globales Dorf, aber halbiert. Die ärmere Hälfte leidet, die reichere aber importiert diese Leiden durch das Fernsehen und bemitleidet die andere von ferne. Man weiß schon, daß es so nicht weitergehen kann, aber es ist immer noch so. Niemand fragte mich nach der neuen Doktrin des State Department, der Doktrin des Abwartens innerhalb eines ökonomischen Cordon sanitaire, als schwieg ich.
Nach den Leiden der Welt kamen die Verrücktheiten an die Reihe. Ich erfuhr, daß ein bekannter französischer Regisseur beschlossen habe, einen Film über das Massaker auf der Treppe zu drehen. Die Rolle des geheimnisvollen Helden sollte Belmondo übernommen haben und die des
von ihm geretteten Mädchens - nicht eines Kindes, denn mit einem Kind kann man nicht schlafen - eine berühmte englische Schauspielerin. Dieser Star hatte gerade geheiratet und zu der heute modernen öffentlichen Hochzeitsnacht viele Prominente eingeladen, um dann rund um das Ehebett eine Sammlung zugunsten der römischen Opfer zu veranstalten. Seit ich von den belgischen Nonnen gehört habe, die beschlossen, durch das Praktizieren einer wohltätigen Prostitution das Pharisäertum der Kirchen zu sühnen, spüre ich nicht einmal Widerwillen, wenn ich von solchen Dingen höre. Auch über Politik wurde gesprochen. Die Neuigkeit des Tages war die Entlarvung der argentinischen Bewegung der Vaterlandsverteidiger als Söldner der Regierung. Man gab der Befürchtung Ausdruck, so etwas lasse sich auf lange Sicht auch für Frankreich nicht ausschließen. Der Faschismus hat sich überlebt, die primitiven Diktaturen ebenfalls, aber gegen den extremistischen Terror gibt es kein wirksames Mittel außer der präventiven Liquidierung der Aktivisten. Den direkten prophylaktischen Mord wird sich die Demokratie nicht erlauben, sie kann jedoch ein Auge schließen bei regierungsfreundlichem Meuchelmord mit beschränkter Haftung unter diskreter indirekter Aufsicht. Das ist nicht mehr der alte Fememord und keine Repression unter dem Firmenzeichen des Staats, sondern konstruktiver Terror per procura. Ich habe von einem Philosophen gehört, der die totale Legatisierung der Gewalt vorschlägt. Noch de Sade bezeichnete diesen Zustand als den Gipfel der wirklichen Freiheit. Man garantiert verfassungsmäßig alle antistaatlichen Aktivitäten ebenso wie die konservativen, und da es mehr Kräfte gibt, die an der Erhaltung der Status quo interessiert sind, als staatszerstörende, wird die Ordnung aus dem Zusammenstoß beider Extreme heil hervorgehen, selbst wenn es zu so etwas wie einem Bürgerkrieg käme.
Gegen elf Uhr führte Barth die Neugierigen im ganzen Haus herum, unten wurde es leer, ich schloß mich drei Gästen an der offenen Tür zur Terasse an. Zwei waren Mathematiker, aus feindseligen Lagern, denn Saussure, ein Verwandter Lagranges, beschäftigte sich mit der Analysis, also mit
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