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Der Schnupfen

Der Schnupfen

Titel: Der Schnupfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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dieses chemische Mittel leicht. Wenn es leicht zerfällt, muß man es häufig in kleinen Dosen verabreichen - oder einmalig in einer massiven Dosis. Wenn man es aber in einer einzigen Dosis verabreicht hätte, wären die Symptome nach Stunden aufgetreten und nicht nach Tagen. Verstehen Sie?«
    »Ja, ich verstehe. Und es gibt Ihrer Meinung nach keine Alternative?«
    »Doch, es gibt eine. Wenn es sich um ein chemisches
    Mittel handelte, das im Augenblick der Aufnahme völlig unschädlich ist, das seine psychotropen Eigenschaften erst annimmt, wenn es im Blut oder im Gewebe zerlegt wird.
    Zum Beispiel in der Leber. In dem Bemühen, das unschädliche Mittel aus dem Körper auszuscheiden, würde die Leber es in ein Gift verwandeln. Das wäre eine interessante biochemische Falle, aber auch reine Phantasie, denn so etwas gibt es nicht, und ich glaube nicht, daß es so etwas geben könnte.«

»Woher diese Sicherheit? «
    »Daher, daß die Pharmakologie ein solches Gift, ein solches >Trojanisches Pferd< nicht kennt, in keinerlei Gestalt, und wenn etwas nie vorgekommen ist, so ist es wenig wahrscheinlich, daß es vorkommen wird.«
    »Also?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Nur das wollten Sie mir sagen?«
    Ich war unhöflich, aber dieser Lapidus reizte mich. Im übrigen fühlte er sich nicht getroffen.
    »Nein, noch etwas. Diese Wirkung kann eine Resultante gewesen sein.«
    »Aus der Einnahme verschiedener Substanzen? Verschiedener Gifte?«
    »Ja.«
    »Aber das würde ohne jeden Zweifel auf absichtliche Anschläge hinweisen.«
    Statt des Pharmakologen antwortete unerwartet Saussure.
    »Ein Mädchen aus der Lombardei diente bei einem Pariser Arzt, der in der Rue St. Pierre Nr. 48 im zweiten Stock wohnte. Ihre Schwester wollte sie besuchen, vergaß den Straßennamen und machte aus St. Pierre einen St. Michel. Sie ging auf den Boulevard St. Michel, fand das Haus Nr. 48, stieg in den zweiten Stock hinauf, sah ein Arzt-
    schild, klingelte und fragte nach Maria Duval, ihrer Schwester. Und es ergab sich, daß auf einer anderen Straße, bei einem anderen Arzt ein Mädchen diente, das auch Duval hieß und sogar denselben Vornamen Maria hatte, genau wie die Schwester der Besucherin, und doch war sie eine völlig andere Person. Und nun £ auf die Frage, wie groß a priori die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses gewesen sei, kann man überhaupt keine sinnvolle, das heißt mathematisch zuverlässige Antwort geben. Es scheint eine Belanglosigkeit zu sein, aber ich sage Ihnen - das ist ein Abgrund! Der einzige Modellbereich für die Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Welt nach Gibbs, die Welt der wiederholbaren Abläufe. Unikale, der Statistik nicht unterliegende, weil einmalige Ereignisse kommen vor, von ihrer Wahrscheinlichkeit aber kann man nicht sprechen.«
    »Es gibt keine unikalen Ereignisse«, warf Mayer ein, der bisher mit der Zunge seine Backe von innen ausgebeult und dabei Grimassen geschnitten hatte.
    »Doch«, entgegnete Saussure.
    »Aber nicht als Serien.«
    »Du bist eine unikale Serie von Ereignissen. leder ist es.«
    »Distributiv oder kollektiv?«
    Ein Zweikampf in Abstraktionen schien bevorzustehen, doch Lapidus legte jedem eine Hand auf das Knie und sagte:
    »Meine Herren!«
    Beide lächelten, Mayer beulte wieder mit der Zunge seine Backe aus, Saussure aber nahm das Thema erneut auf:
    »Man kann eine Häufigkeitsverteilung des Namens Duval oder der Pariser Ärztewohnungen vornehmen, o ia, aber wie verhält sich die Verwechslung des heiligen Petrus mit dem heiligen Michael zur Häufigkeit des Auftretens dieser Namen als Straßennamen in Frankreich? Und welchen Zahlenwert soll man dem Fall geben, daß dieses
    Mädchen zwar ein Haus findet, in dem jemand namens Duval wohnt, aber im dritten und nicht im zweiten Stock? Mit einem Wort, wo schließt man die Menge der Beziehungen ab?«
    »Sicher nicht im Unendlichen«, gab Mayer seinen Senf dazu.
    »Ich kann beweisen, daß sie nicht nur klassich, sondern transfinal unendlich ist.«
    »Entschuldigen Sie«, mischte ich mich ein, mein Ziel vor Augen, »Herr Dr. Saussure, Sie haben das doch sicher mit Absicht gesagt, aber in welchem Sinn?«
    Mayer warf mir einen mitleidsvollen Blick zu und ging hinaus auf die Terrasse. Saussure sah aus, als wunderte ihn meine AhnungsloSigkeit.
    »Waren Sie schon mal im Garten hinter der Laube, wo die Erdbeeren sind?”
    »Ja.«
    »Dort steht ein runder Tisch aus Holz, der an der Kante mit Kupfernägeln beschlagen ist. Haben Sie ihn

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