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Der Schnupfen

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Titel: Der Schnupfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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der reinen Mathematik, der zweite aber als Programmierer und gelernter Statistiker mit der angewandten. Amüsant war der Kontrast ihres Aussehens. Saussure, hager, schwarzhaarig, mit knochigem, von einem Backenbart umrahmtem Gesicht und goldenem Zwicker am Bändchen, als wäre er aus einer Daguerreotypie gestiegen, trug um den Hals wie einen Orden einen japanischen Taschenrechner.
    Gewiß sollte das ein Scherz sein. Der Statistiker, goldhaarig, lockig, massiv, sah aus wie der schwerfällige Boche von den französischen Ansichtskarten des Ersten Weltkrieges und stammte tatsächlich von einer deutschen Familie ab.
    Er hieß Mayer und nicht Mailleux, wie ich zuerst gedacht hatte, denn so sprach er seinen Namen aus. Die Mathematiker drängten sich nicht zu einer Unterhaltung, mich sprach der Dritte aus der Gruppe an, der Pharmakologe Dr. Lapidus. Er sah aus, als käme er von einer unbewohnten Insel, denn er ließ sich den Bart wachsen. Er fragte, ob die Untersuchung zu abortiven Fällen geführt hätte, das heißt zu solchen, bei denen die Wahnsinnssymptome aufgetreten seien, um dann von selbst wieder zu verschwinden. Ich sagte, die Mikrofilme enthielten die kompletten Akten, und wenn man den Fall Swift nicht als abortiven Fall behandeln wolle, dann habe es derartiges eigentlich nicht gegeben.
    »Das ist erstaunlich!« sagte er.
    »Wieso gleich erstaunlich?«
    »Die Phänomene traten mit ungleicher Intensität auf, und wenn jemand hospitalisiert wurde wie der, der aus dem Fenster sprang, vergingen sie. Unter der Vorausset-
    zung einer chemisch hervorgerufenen Psychose bedeutete das eine unverständliche Steigerung der eingenommenen Dosis. Hat niemand darauf aufmerksam gemacht?«
    »Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen.«
    »Es gibt keine psychotrope Verbindung, die mit solcher Verspätung wirkt, daß sie, sagen wir einmal, am Montag eingenommen, die ersten Symptome am Dienstag, die Halluzinationen am Mittwoch und das Maximum der Erscheinungen am Sonnabend erzeugt. Gewiß, man kann im Körper ein Depot schaffen, indemman etwa subcutan eine derart präparierte Verbindung spritzt, daß sie erst in Wochen assimiliert wird, aber das ist ein Eingriff, der Spuren an der Leiche zurückläßt. Die Obduktion müßte sie entdek-ken, doch in den Akten habe ich nichts darüber gefunden.«
    »Sie haben nichts gefunden, weil so etwas nicht festgestellt wurde.«
    »Und gerade das überrascht mich.«
    »Aber sie konnten das Präparat doch mehrfach einnehmen, so daß es kumulierte … «
    Er schüttelte mißbilligend den Kopf.
    »Wie denn? Vom Beginn der neuen Lebensweise bis zum Auftreten der Symptome vergingen immer einige Tage, sechs bis acht, sogar zehn. Es gibt kein Mittel mit so verspäteter Wirkung oder solcher Kumulierung. Wenn man annimmt, sie hätten diese Verbindung vom ersten oder zweiten Tag nach ihrem Eintreffen an. eingenommen, hätten die Symptome nach 48 Stunden auftreten müssen. Wären diese Leute nieren- oder leberkrank gewesen, könnte man noch diskutieren, aber solche gab es da nicht.«
    »Was also meinen Sie?«
    »Nach diesem Bild wurde ihnen systematisch, stufenweise und unablässig Gift verabreicht.«
    »Sie nehmen absichtliche Vergiftung an? «
    Er lächelte mit seinen Goldzähnen.
    »Nein. Ich weiß nicht, vielleicht waren es die Zwerge, vielleicht kamen Fliegen direkt aus einem pharmazeutischen Labor geflogen und setzten sich auf ihre Brötchen, nachdem sie zuvor über die aromatischen neueren Lyzer-gin-Derivate spaziert waren. Doch ich weiß, daß die Konzentration dieser Verbindung im Blut der Opfer langsam zunahm. «
    »Aber wenn das eine unbekannte Verbindung ist?«
    »Für uns?«
    Er sagte es so, daß ich lächelte.
    »Ja. Für Sie. Für die Chemie. Ist das möglich?«
    Er verzog das Gesicht und ließ seine Goldzähne blitzen. »Unbekannte Verbindungen gibt es mehr als Sterne am Himmel. Aber es kann keine geben, die zugleich widerstandsfähig und nicht widerstandsfähig gegen den Stoffwechsel des Gewebes sind. Es gibt unendlich viele Kreise, aber keine quadratischen.«
    »Verstehe ich nicht.«
    »Es ist ganz einfach. Chemische Mittel, die heftige Symptome erzeugen, schaffen im Körper dauerhafte Verbindungen, wie etwa das Kohlenmonoxyd oder die Zyanide mit dem Hämoglobin. Solche Verbindungen kann man bei der Autopsie immer feststellen. Besonders wenn man Mikromethoden wie zum Beispiel die Chromatographie anwendet. Sie ist angewendet worden, aber sie hat nichts ergeben. Wenn dem so ist, dann zerfällt

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