Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schnupfen

Der Schnupfen

Titel: Der Schnupfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
Vom Netzwerk:
biß, trat, stieß sie zurück und strebte wieder auf die Balustrade zu. Ein Polizist erschien, zu dritt packten sie Proque ins Taxi, doch er tobte weiter, auf dem Pflaster lagen die Hundert-Francs-Scheine, der Polizist fesselte ihn schließlich an sich, und sie fuhren ins Krankenhaus. Unterwegs gelang dem Optiker etwas ziemlich Ungewöhnliches. Als das Auto abfuhr, fiel er gewissermaßen in sich zusammen und lag willenlos wie ein Lappen in der Ecke, raffte sich aber plötzlich auf, und bevor der Polizist ihn auf seinen Platz ziehen konnte, griff er dem Fahrer ins Steuer. Es herrschte starker Verkehr, so kam es zur Kollision. Das Taxi rammte die vordere Tür eines Citroen dermaßen, daß die Hand des Fahrers zwischen Lenkrad und Tür eingeklemmt wurde und er sich das Handgelenk brach.
    Mit einem anderen Taxi brachte der Polizist Proque endlich ins Krankenhaus, wo man seinen Fall versehentlich nicht allzu ernst nahm, zumal er in Stupor verfiel, hin und wieder weinte und auf Fragen nicht antwortete, sich sonst aber ruhig verhielt. Man nahm ihn zur Beobachtung auf, doch bei der Abendvisite des Chefarztes stellte sich heraus, daß er verschwunden war. Er lag unter dem Bett, in eine Decke gewickelt, die er unter dem Laken hervorgezogen hatte, an die Wand gepreßt, so daß er nicht so schnell bemerkt wurde.
    Er hatte ein Stück Rasierklinge aus seinem Anzug in den Krankenhauspyjama geschmuggelt und sich damit die Pulsadern aufgeschnitten; vor Blutverlust war er nun ohnmächtig. Mit drei Transfusionen wurde er gerettet. Später kamen Komplikationen hinzu, sein Herz war ohnehin schwach.
    Ich übernahm die Sache am Tage nach dem Zwischen-
    fall auf der Ile St.-Louis. Eigentlich war daran dem Anschein nach nichts für die Sûreté, doch der Besitzer des DS hatte einen Rechtsberater, der die Meinung vertrat, hier ergebe sich eine vorzügliche Gelegenheit, die Polizei zu melken. Der Advokat tischte die Version von der strafwürdigen Nachlässigkeit eines Polizeifunktionärs auf, der beim Transport eines tobsüchtigen Verbrechers zugelassen habe, daß dieser das Auto seines Klienten rammte und ihm neben dem körperlichen und materiellen Schaden auch noch einen schweren psychischen Schock zufügte. Die Polizei müsse die Verantwortung tragen, wahrscheinlich müsse eine Rente gezahlt werden, selbstverständlich aus dem Säckel des Ministers, denn der schuldige Polizist sei im Dienst gewesen.
    Um einen besseren Start zu haben, informierte der Rechtsanwalt in diesem Sinn die Presse. Dadurch geriet die Sache von der Ebene der banalen Zwischenfälle um einige Stufen höher, weil jetzt das Prestige der Sûreté eine Rolle spielte oder eigentlich der Police Judiciaire, und der Chef trug mir auf, den Fall zu untersuchen.
    Die einleitende ärztliche Diagnose sprach von einem heftigen Tobsuchtsanfall mit dem Bild einer spät beginnenden Schizophrenie, doch je länger man Proque dort untersuchte - schon nach dem Selbstmordversuch -, desto weniger blieb von der Diagnose übrig. Nach sechs Tagen war er ein gebrochener, kaum noch lebendiger, schnell gealterter, aber darüber hinaus eigentlich normaler Mensch. Am siebenten Tag seines Krankenhausaufenthaltes machte er eine Aussage. Er erklärte, der bewußte Kunde habe ihm statt der vereinbarten 1 500 Francs zunächst nur 150 ausgezahlt, weil er ihm nicht alle Abzüge geliefert hätte. Am Montag, als er Gläser für eine Brille zuschliff, hätte ihn beim Schleifen eine solche Wut auf diesen Kunden überkommen, daß er alles hingeworfen und seine Werkstatt verlassen hätte, >um mit ihm abzurechnen<. Daß er in der Konditorei gewesen war, wußte er überhaupt nicht mehr. Er erinnerte sich auch nicht an die Vorgänge auf der Brücke, sondern wußte nur, daß er dem Kunden in seiner Wohnung eine Szene gemacht und dieser ihm den Rest des Geldes ausgezahlt hatte. In der Nacht nach der Aussage verschlechterte sich der Zustand des Optikers plötzlich. Er starb gegen Morgen am Herzkollaps. Die Ärzte einigten sich untereinander auf reaktive Psychose. Obgleich Proques Tod nur im mittelbaren Zusammenhang mit seinem Anfall vom Montag stand, wurde die Sache doch schwerwiegender. Eine Leiche ist immer eine Trumpfkarte. Ich hatte mich am Tag vor seinem Tod zu seiner Mutter begeben. Für ihr Alter war sie noch recht vernünftig. Ich hatte einen Assistenten der Rauschgift-Abteilung mit in die Rue Amélie genommen, damit er sich die Dunkelkammer und die dort befindlichen Materialien ansehe. Lange saß ich bei Frau

Weitere Kostenlose Bücher