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Der Schnupfen

Der Schnupfen

Titel: Der Schnupfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Ende Mai, Anfang Juni. Haben Sie auch dafür eine Erklärung?«
    »Nein. Mindestens nicht sofort. Man muß, meine ich, das Ganze vom anderen Ende her betrachten, man muß die voraussichtlichen Opfer heraussuchen, nicht mehr die >experimentellen<. sondern die richtigen. Man muß sich also in der italienischen Elite umsehen, und zwar nicht nur in der politischen. Wenn sich herausstellen sollte, daß es sich in einigen wesentlichen Fällen um Allergiker handelt… «
    »Ach so! Ich verstehe. Mit einem Wort, Sie schicken mich
    nach Rom. Ich fürchte, ich werde hinfahren müssen, das kann wirklich eine heiße Spur sein…«
    »Sie wollen hinfahren? Aber doch nicht sofort…«
    »Morgen, spätestens übermorgen, denn das ist nichts, worüber man am Telefon berichten kann.«
    Damit trennten wir uns. Als ich in meiner Mansarde Barths Konzept überdachte, fand ich es meisterhaft. Er hatte auf einen Schlag eine glaubwürdige Hypothese entwik-kelt und sich aus der Affäre gezogen, da der Fall auf ganz natürliche Weise nach Italien zurückkehrte und damit die Frage nach der französischen Geschichte des Faktors X gegenstandslos wurde. Ob Dunant ihn in der Dunkelkammer auf der Rue Amélie wiedergefunden hatte, wurde unwichtig. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr festigte sich in mir die Überzeugung, Barths Schuß treffe ins Schwarze. Das Präparat X existierte und wirkte. Ich durfte nicht daran zweifeln. Und ebensowenig daran, daß eine solche Methode der Ausschaltung politischer Schlüsselfiguren eine in ihren Folgen unberechenbare Erschütterung hervorrufen könne, vielleicht nicht nur in Italien. Die Wirkung wäre heftiger als bei einem »klassischen, Staatsstreich. Gleichzeitig betrachtete ich den Fall der Elf mit einem an Ekel grenzenden Unwillen. Wo bislang ein unbegreifliches Rätsel gedämmert hatte, zeichneten sich nun die Konturen eines ebenso trivialen wie blutigen Machtkampfes ab. Der ungewöhnliche Anschein verdeckte gewöhnlichen politischen Mord.
    Am nächsten Tag fuhr ich in die Rue Amélie. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Ich sage, ich fuhr hin, und gegen elf Uhr ging ich dort den Bürgersteig entlang und blieb vor den Schaufenstern der Läden stehen, aber noch bei der Abfahrt aus Garges war ich nicht sicher gewesen, ob ich es mir nicht im letzten Augenblick anders überlegen und zum Eiffelturm fahren würde, um von Paris Abschied zu nehmen. Doch diese Chance erlosch, als ich auf die Boulevards gelangte. Es war etwas mühsam, die Rue Amélie zu finden, ich kannte das Viertel nicht und mußte länger nach einem Parkplatz suchen. Das Haus, in dem Dieudonné Proque gewohnt hatte, erkannte ich, noch bevor ich die Nummer lesen konnte. Es sah fast genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein altes, zum Abbruch bestimmtes Mietshaus mit geschlossenen Fensterläden und mit dem altmodischen Giebelschmuck, durch den die Architekten des vorigen Jahrhunderts ihren Bauten Individualität verliehen. Die Optikerwerkstatt existierte nicht mehr, die heruntergelassene Jalousie war mit einem Vorhängeschloß gesichert. Auf dem Rückweg hielt ich vor dem Spielwarengeschäft an. Es war Zeit, Mitbringsel einzukaufen, denn ich beabsichtigte nicht, an der Wiederaufnahme der Untersuchung teilzunehmen. Ich hatte beschlossen, Randy die von Barth stammende Information zu übermitteln und dann in die Staaten zurückzukehren. Also trat ich ein, um für die Söhne meiner Schwester etwas zu kaufen - der Einkauf wurde zur vernünftigen Rechtfertigung meiner Eskapade.
    In den Regalen glänzte verkleinert unsere bunte Zivilisation. Ich suchte nach Spielzeug, an das ich mich noch aus meiner eigenen Kindheit erinnerte, aber hier gab es nur Elektronik, Startrampen, kleine Supermen in Angriffspositionen von Judo und Karate. Du bist dumm, sagte ich mir, für wen kaufst du eigentlich Spielzeug? Ich entschloß mich zu Paradehelmen der französischen Garde mit Federbüschen und zu einer Marianne-Marionette, denn das gab es nicht in Detroit. Beladen, steuerte ich auf das Auto zu und bemerkte an der Straßenecke eine kleine Konditorei mit weißen Gardinen. Im Schaufenster erhob sich braun ein aus gebrannten Mandeln aufgeschütteter Vesuv. Der Verkäufer am Weg vom Hotel zum Strand fiel mir ein. Ich war nicht sicher, ob die bitteren Mandeln den Jungen schmek-ken würden, trat aber ein und kaufte einige Tütchen. Seltsam, dachte ich, daß mich Neapel gerade hier verabschiedet. Zögernd ging ich zum Wagen, als hätte ich noch nicht

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