Der Schnupfen
dort hingriff, stieß er die Brille herunter. Eine Linse zersprang, außerdem beschädigte er die Fassung, weil er mit dem Fuß darauf trat. Darum brachte er diese Brille zu Proque. Als er zwei Tage später kam, um sie abzuholen, erkannte er den Optiker kaum wieder. Er sah elend und abgezehrt aus wie nach einer schweren Krankheit und erzählte Dunant, er habe sich wohl irgendwie vergiftet, es sei ihm nachts sehr schlecht gegangen, er habe einen merkwürdigen Anfall gehabt - noch jetzt sei ihm ohne erkennbaren Grund zum Weinen zumute, schloß er seine Erzählung. Dunant beachtete die Worte nicht weiter. Er war jedoch mit der Reparatur unzufrieden, ein Brillenbügel drückte ihn, die neu eingesetzte Linse wackelte in der Kunststoffassung und fiel nach ein paar Tagen heraus. Da das wieder in dem mit Fliesen ausgelegten Labor geschah, zersprang das Glas. Der Dok-tor brachte die Brille nochmals zum Optiker. Tags darauf holte er sie ab, und Proque sah wieder aus wie Lazarus, als wäre er binnen vierundzwanzig Stunden um Jahre gealtert. Dunant fragte ihn leichthin nach den Anzeichen des erneuten >Anfalls<. Die Beschreibung erinnerte an eine heftige Depression im Verlauf einer chemisch induzierten Psychose, die Symptome ähnelten stark denen, die das Präparat X hervorrief; und mit diesem gerade plagte sich Dunant seit langem herum. Derart starke Symptome jedoch erzeugte erst eine Dosis in der Größenordnung von zehn Gramm Trockensubstanz - was also konnte es für einen Zusammenhang geben zwischen diesem Faktum und der Abgabe der Brille zur Reparatur? Er hatte dem Optiker zweimal die Reservegläser gebracht, die gewöhnlich auf dem Brett lagen. Er vermutete also, die Substanz X könne verdampft, in der Luft aufgestiegen sein und sich in mikroskopisch kleinen Mengen auf der Reservebrille niedergeschlagen haben. Er beschloß, das zu untersuchen. Er analysierte die Brille chemisch und stellte fest, daß tatsächlich auf den Gläsern und den Metallgelenken der Fassung Spuren der Verbindung X zu finden waren. Doch waren es Mengen von einigen Gamma, das heißt von einigen Tausendstel Milligramm. Unter den Chemikern geht eine anekdotische Geschichte darüber um, wie es zur Entdeckung des LSD kam. Ein Chemiker, der mit dieser Substanz arbeitete, verdächtigte sie ebensowenig wie irgend jemand damals einer halluzinogenen Wirkung. Nach Hause zurückgekehrt, erlebte er einen typischen Trip mit Visionen und einer psychotischen Aura, obwohl er sich nach Verlassen des Labors wie üblich sorgsam die Hände gewaschen hatte. Unter den Fingernägeln war jedoch eine minimale Menge LSD haftengeblieben, die genügte, um eine Vergiftung hervorzurufen, als er sich sein Abendessen zubereitete.
Dr. Dunant begann zu überlegen, was eigentlich ein Optiker tat, wenn er neue Gläser einsetzte und die Bügel ausrichtete. Zur Ausrichtung der aus Kunststoff gefertigten Bügel bewegt er sie über einer Gasflamme schnell hin und her. Unterlag die Verbindung X bei Erhitzung womöglich Veränderungen, die ihre Wirkung millionenfach steigerten? Dunant erhitzte Proben dieser Verbindung mit allen denkbaren Methoden, mit Brennern, Spirituskochern, Kerzenflammen, doch ohne Ergebnis. Also beschloß er, ein sogenanntes Experimentum crucis durchzuführen. Er verbog mit Absicht noch einmal den Bügel seiner Brille und überzog ihn anschließend mit einer Lösung des Präparates X in so starker Verdünnung, daß nach dem Austrocknen des Lösungsmittels auf der Fassung eine Menge von etwa einem Millionstel Gramm an Spuren übrigblieb. So brachte er die Brille zum dritten Mal zum Optiker. Als er sie abholen wollte, erblickte er hinter dem Ladentisch den Polizisten. Das ist die ganze Geschichte, Monsieur. Eine Geschichte ohne Lösung und somit auch ohne Schluß. Dr.
Dunant vermutete, irgendein Faktor in der Werkstatt des Optikers habe die Veränderung des Präparates X bewirkt.
Es sei zu einer katalytischen Reaktion gekommen, die die Wirkung des Präparates fast eine Million Mal verstärkt habe. Doch gelang es nicht, irgend etwas festzustellen. Wir ließen die Sache fallen, denn es gab keinen Grund, die Untersuchung fortzuführen, wenn man den Schuldigen nicht unter den Menschen, sondern unter den Atomen zu suchen hatte. Zu einem Verbrechen war es nicht gekommen, da die Menge der Verbindung X, mit der Dr. Dunant die Brille überzogen hatte, ehe er sie dem Optiker brachte, keine Fliege töten konnte. Soviel ich weiß, hat Dunant oder jemand in seinem Namen von Frau
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