Der Schock: Psychothriller (German Edition)
Residenz Blankenburg. Vier Halogenspots tauchten das Schild in grelles Licht.
»Denkst du wirklich, wir brauchen ihn?«, fragte Jan.
Katy nickte. Sie wusste, wie es Jan ging, sah es an seinen plötzlich eckig und steif gewordenen Bewegungen. »Um halb zehn wird uns wohl kaum jemand zu einer dementen Patientin lassen, zumal wir keine Angehörigen sind. Bei Papa sieht das schon anders aus.«
»Vielleicht brauchen wir seine Hilfe gar nicht. Wir sagen einfach, wir wollen ihn besuchen, spazieren rein, und mit etwas Glück finden wir Maria Hülscher auch so.«
»Und du meinst wirklich, das macht Sinn? Schließlich ist sie dement.«
»Einen Versuch ist es wert. Bei dementen Patienten funktioniert das Langzeitgedächtnis oft noch am besten. Es kann sein, dass sie sich absolut nicht erinnert, wo in ihrem Zimmer die Toilettentür ist oder ob sie das Wasser abgestellt hat. Aber an Dinge, die lange zurückliegen, kann sie sich vermutlich trotzdem noch gut erinnern.«
Sie bogen auf den Weg ein, der zum Hauptgebäude der Residenz Blankenburg führte. Aus dem nächtlichen Himmel fielen erste Regentropfen.
Das Seniorenheim war ein weitläufiger vierstöckiger Neubau mit großzügigen Glasfenstern, der vor sechs Jahren von einem geschlossenen Immobilienfonds neben dem Golf Resort Berlin-Pankow errichtet worden war. Im linken Flügel waren kleine Apartments für die aktiveren Pensionäre wie Karl Floss, Jans Vater. Im rechten Flügel waren die Pflegefälle untergebracht, zu denen mit Sicherheit auch Maria Hülscher gehörte. Baulich waren beiden Teile des Heims voneinander getrennt, auch wenn beide vom selben Träger betrieben wurden. Doch Katy waren bei ihren Besuchen Verbindungstüren zwischen den beiden Trakten aufgefallen.
Sie traten ins Foyer und gingen am Empfang vorbei, einem runden Holztresen mit einer ebenso runden Frau mit raspelkurzen Haaren.
»Guten Abend.« Katy nickte ihr zu.
»Guten Abend, Frau Bengtson. So spät heute?«
»Keine Sorge«, lächelte Katy. »Ich kenne ja die Regeln. Und für meinen Vater war halb zehn noch nie spät.«
Die Frau gab Katys Lächeln zurück, als wäre sie ein Spiegel.
Jan fragte sich, wie oft Katy wohl hierher kam. Sofort regte sich sein schlechtes Gewissen, ein Gefühl, von dem er sich geschworen hatte, es im Zusammenhang mit seinem Vater nie wieder zu haben. Automatisch wurden seine Schritte schneller.
Während er die Treppe emporeilte, überlegte er wieder, wie sie am schnellsten das Zimmer von Maria Hülscher finden konnten. Eine Schwester würden sie wohl kaum fragen. Vielleicht einen anderen Bewohner?
»Nach rechts«, sagte Katy hinter ihm, als sie den zweiten Stock erreichten. Aus dem Flur auf der linken Seite klang ein dumpfes Gemisch aus verschiedenen Fernsehprogrammen. Das Laminat sah aus wie Buchenparkett. Wandlampen warfen gediegene Lichtkegel an die Textiltapete.
Rechts lagen die Fahrstühle und dahinter die Tür zum anderen Trakt. Jan hatte gerade die Hand an den breiten runden Plastikgriff gelegt, wollte die Tür öffnen, da ertönte ein leises ›Ping‹. Der matt lackierte Stahl vor der mittleren Fahrstuhlkabine glitt beiseite wie ein elektrischer Vorhang. Hinter dem Vorhang stand sein Vater.
Jan starrte ihn an.
Sein Vater starrte zurück, mit müden, unruhigen Augen, die sich von Jans nur durch das fortgeschrittene Alter und die dunklen Ringe unter ihnen unterschieden. Im Gegensatz zu früher war er schlecht rasiert, seine schütteren Haare waren etwas zu lang und die Wangen eingefallen und runzelig. Es kam Jan grotesk vor, ihm so plötzlich gegenüberzustehen. Andererseits war es typisch für seinen Vater, genau dann aufzutauchen, wenn man ihn am wenigsten sehen wollte.
»Was zum Teufel machst du hier?«, fragte Karl Floss. Seine Stimme war brüchig und nasal, als hätte er eine Erkältung. Sein Blick ging zur Seite und fing Katy ein.
»Hallo, Papa«, sagte Katy. Ihr Versuch, unbefangen zu klingen, scheiterte jämmerlich. »Wir suchen jemanden.«
»Ich habe Jan gefragt.«
»Wir suchen jemanden«, wiederholte Jan.
Der Blick seines Vaters strich über sein Gesicht, mit zusammengekniffenen Augen, als suche er etwas. »Hast du das Ding da wegen der Polizei wegmachen lassen?«
Jan brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sein Vater meinte. Dann nickte er. »Dich haben sie also auch angerufen?«
»Hat Katy dir das nicht gesagt?«
»Doch. Hat sie.« Er hatte es nur vergessen.
»Würdest du mir dann bitte schön erklären, was das alles
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