Der Schock: Psychothriller (German Edition)
Leiterin des Schulpsychologischen Dienstes in Berlin, oder?«
Maria Hülscher runzelte die Stirn. »Was für eine Frage. Natürlich. Hat Ihr Kind Schwierigkeiten? Kann ich etwas für Sie tun? Sobald ich morgen früh wieder an meinem Schreibtisch sitze, kümmere ich mich darum.«
Jan lächelte. Dass Maria Hülscher sich noch im Amt fühlte, war gut. »Ich suche jemanden. Jemand Besonderen. Vielleicht ist er Ihnen ja als Schüler begegnet.«
»Oh, mir sind viele begegnet. Sehr viele. So viele hoffnungslose Fälle. Schwierige Fälle.«
»Der Fall, den ich meine, ist wirklich ungewöhnlich. Sagt Ihnen der Name Peter Nolte etwas?«
Maria Hülscher starrte eine Weile in die Flamme, dann schüttelte sie den Kopf.
Gut. Das muss noch nichts heißen, dachte Jan. »Können Sie sich vielleicht erinnern, ob es jemals einen Fall mit einem Albino gegeben hat? Einem Schüler mit besonders heller Haut?«
Die alte Psychologin sah erst ihn an, dann wieder in die Flamme. Ihr Blick war entrückt, und sie schwieg hartnäckig. Dann schüttelte sie erneut den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Jan, die Frage ist doch nun wirklich Unsinn«, warf sein Vater ein. »Du weißt doch, wie es Maria geht.«
»Papperlapapp, Karl«, brummte Maria Hülscher ärgerlich. »Mein Gedächtnis ist besser als deins. Ich muss nur manchmal ein bisschen … suchen.«
»Vielleicht konnte man auch nicht erkennen, dass er an Albinismus leidet. Dann wäre er geschminkt gewesen«, bohrte Jan. »Ein Junge, der immer geschminkt war, sich immer verstecken wollte. Überkontrolliert, zwanghaft, vielleicht hat er sich sogar die Haare gefärbt …«
Plötzlich leuchteten Maria Hülschers Augen auf. »Oh. Ja. Da gab es etwas. Ich erinnere mich. Warten Sie …«
Treffer! Jan spürte ein Kribbeln in seinem Nacken. Elektrisiert beugte er sich vor, hing an den Lippen der Psychologin.
»Es war gar kein Fall, wissen Sie. Manchmal gibt es das. Wir ahnen, da ist etwas oder jemand, der Hilfe braucht. Aber wir können nichts tun. Weil nichts Schlimmes passiert. Und weil weder die Eltern noch die Schule uns offiziell einschalten. So war das in diesem Fall.«
Sie schwieg einen Moment, und Jan befürchtete schon, dass sie sich in ihren Erinnerungen verlief oder sie mit der Gegenwart vermischen würde.
»Mich hat damals eine junge Kollegin angerufen, sie hieß … warten Sie … nein, ich komme nicht drauf. Also, sie rief an, weil es bei einem Ausflug in eine Jugendherberge einen Zwischenfall gegeben hatte. Sie ist mitten in der Nacht aufgewacht. Alle Betten waren leer, und aus dem Duschraum kam Lärm, Gelächter. Sie ist dem sofort nachgegangen. Die ganze Klasse war unten und stand im Kreis um einen Jungen herum. Er lag unter der Dusche, war gestürzt und hatte sich das Bein verstaucht oder gebrochen. Die Klasse hatte den Jungen wohl unter der Dusche überrascht, er soll angeblich onaniert haben … na ja, aber das eigentlich Sonderbare war: Der Junge war bleich wie der Tod. So oder so ähnlich hat sie es gesagt. Ihr war wohl früher schon aufgefallen, dass er sich schminkt. Sie wusste nie, warum. Aber jetzt, wo sie ihn da im Duschraum sah, wie ein Häufchen Elend, nackt, mit ganz und gar weißer Haut …«
Weiße Haut. Geschminkt. Jans Herz schlug schneller. Und dann die Dusche – vielleicht ein Waschzwang. Sexuelle Frustration. Alles schien zu passen. Er wollte gerade fragen, ob sie sich daran erinnerte, wann das gewesen war, bremste sich dann jedoch. Die Frage würde sie durcheinanderbringen. Er musste direkt beim Thema bleiben. »Was ist dann passiert? Haben Sie etwas unternommen?«
Maria Hülscher nickte geistesabwesend. »Der Junge wollte nicht reden. Deswegen habe ich seine Eltern angerufen. Sie haben gesagt, es wäre alles in Ordnung. Also bin ich dort vorbeigegangen.« Sie lächelte spitzbübisch. »So leicht lasse ich mich nicht abschütteln.«
Jan verkniff sich die Frage nach dem Namen der Eltern. Er wusste, dass die geringste Unterbrechung, wie zum Beispiel das Kramen in der Erinnerung nach einem Namen, ihren Gedankenfluss stoppen konnte. Nichts war so störanfällig wie ein dementes Gedächtnis.
»Der Vater des Jungen hatte einen Laden. Eisenwaren, glaube ich. Und er war Alkoholiker, das konnte man sofort sehen. Die Mutter war anders. Gepflegt, irgendwie. Sehr bemüht um ihr Aussehen.« Sie kicherte, wurde aber sofort wieder ernst. »Die Tochter eines Parfümerie-Besitzers, habe ich später rausbekommen. Es sah
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