Der Schock: Psychothriller (German Edition)
Am Türschild stand in kleinen Lettern: Zimmer 316, Borken, Walter. Jan lief ein Schauer über den Rücken. Es klang so sehr nach Qual und Schmerzen, dass Walter Borken sich vermutlich nichts mehr wünschte als den Tod. Und dennoch lag er hier, ächzte wie ein seelenloser Automat, und niemand erlöste ihn.
Sein Vater deutete auf die gegenüberliegende Tür. Zimmer 315, Hülscher, Maria. Auf ihren Doktortitel schien hier offenbar niemand mehr Wert zu legen.
Karl Floss legte den Zeigefinger auf die Lippen. Der Tremor ließ die Hand mit dem Finger beben.
»Schläft sie schon?«, fragte Katy leise.
Jans Vater schüttelte energisch den Kopf. »Wir sollten sie nicht zu sehr überraschen, das überfordert sie manchmal.« Er klopfte an die Tür. Wartete eine Weile. Dann noch einmal. Schließlich öffnete er die Tür.
Ein Windstoß fuhr Jan ins Gesicht. Maria Hülscher musste die Fenster geöffnet haben. Doch sehen konnte er nichts. Im Zimmer war es stockfinster, bis auf ein flackerndes Windlicht auf dem Tisch vor dem Balkon. Daneben saß eine dunkle Gestalt in einem Sessel, eingewickelt in eine Decke. Die Kerze gab ihr eine diffuse zittrige Lichtkante.
»Maria? Ich bin’s. Karl Floss, von nebenan.«
»Karl? Bist du das?« Die Stimme war überraschend hoch und klar, nur das charakteristische Kratzen verriet ihr Alter. »Jetzt komm schon rein und mach die Tür zu, sonst reißt Sebastian wieder aus.«
Sebastian? Jan warf seinem Vater einen fragenden Blick zu.
»Ihr Sohn«, flüsterte er. »Ist im Alter von vier Jahren aus der Wohnung ausgebüxt und von einem Auto angefahren worden. Sie glaubt, er ist tot.«
»Mit wem flüsterst du?«
»Ich habe Besuch, Maria.«
»Nicht noch mehr Kinder«, stöhnte die alte Frau. »Immer nur Kinder, mein ganzes Leben lang.«
»Keine Kinder, Maria. Erwachsene«, sagte Karl Floss, trat ins Zimmer, winkte Jan und Katy herein und schloss rasch die Tür. Im Zimmer roch es trotz des offenen Fensters streng nach Putzmitteln.
»Du sollst doch keine Kerzen anzünden, Maria«, sagte Karl Floss sanft.
Maria Hülscher runzelte die Stirn. Das Windlicht ließ ihr Gesicht in der Dunkelheit flackern. »Die können mir hier gar nichts sagen«, erklärte sie trotzig. »Nichts darf man. Alles machen sie weg. Sogar meinen Geruch. Riechst du das nicht, wie das hier nach diesem Zeug stinkt? Pfui Teufel. Da kann man ja nicht mehr atmen. Wen hast du denn mitgebracht, Karl?«
Jan trat ins Licht der Kerzenflamme. »Guten Abend, Frau Hülscher. Ich bin Jan Floss, das ist meine Schwester Kathrin Bengtson.«
»Floss?« Die alte Frau sah erst Jan an, dann seinen Vater. »Den Namen habe ich schon mal gehört. Karl, hast du die Leute mitgebracht?«
Karl Floss nickte. »Ja, Maria. Katy ist meine Tochter, und Jan ist mein Sohn.«
»Was für ein Unsinn, Karl! Wir haben keine Tochter. Und unser Sohn ist tot.«
»Maria, ich bin’s, Karl Floss, hier von nebenan. Wir sind im Heim«, erklärte er geduldig. Er trat an den Sessel und legte seine zittrige Hand auf ihre, mit einer Selbstverständlichkeit, die Jan zutiefst irritierte. War das sein Vater? Der ehrgeizige Agenturchef? Der Mann, der sich immer und vor allem bei seiner Arbeit versteckt hatte?
»Marias Mann hieß auch Karl«, sagte Jans Vater, als würde das alles erklären.
Maria Hülscher beugte sich ein wenig vor und strich liebevoll und zugleich abwesend mit ihrer freien Hand über die Wange seines Vaters, der es geschehen ließ und dabei unsicher lächelte. Doch etwas in seinem Blick zeigte Jan, dass er diese Berührung förmlich aufsog, als könnte die Hand von Maria Hülscher Wunden heilen. Der Moment war so intim und traf Jan mit solcher Wucht, dass es ihm den Atem raubte.
Wo um alles in der Welt ist dieser Mann gewesen, als ich klein war?, fragte er sich.
»Ich glaube, die beiden haben eine Frage, Maria.« Karl Floss sah Jan und Katy an. »Wollt ihr euch nicht setzen?«
Jan räusperte sich. Er war außerstande zu antworten, nahm sich aber einen der drei Stühle und setzte sich an den Tisch, ebenso wie Katy und Karl Floss, der sich eine Decke vom Bett nahm und sich einwickelte. Durch das offene Fenster drang das Rauschen von Regen. Die Kerzenflamme duckte sich unter der feuchten und kalten Luft.
Jan räusperte sich abermals. »Darf ich Maria sagen, Frau Hülscher?«
»Frau Dr. Hülscher bitte. Aber natürlich. Alle Freunde meines Mannes dürfen Maria zu mir sagen.« Sie lächelte gewinnend.
»Äh, gut. Also, Maria, Sie waren doch früher die
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