Der Schock: Psychothriller (German Edition)
heraustreten, nicht mehr da sein.
Sein Vater keuchte vor Anstrengung, als er ging. Sein Schweiß hing noch in der Luft. Froggy lag bäuchlings auf seinem Bett, mit schmerzendem Rücken. Er kam sich erbärmlich vor, schwach, und wollte sich selbst in die hinterste Ecke seiner Seele verkriechen, dorthin, wo ihn niemand sah und wo er still in sich hineinheulen konnte.
Sehnsüchtig dachte er an den Film, den er eben noch gesehen hatte. Wäre er doch nur unsichtbar, wie dieser Mann.
Wer unsichtbar war, der konnte auch nicht dumm auffallen – oder ausgelacht werden. Und vor allem: Wer unsichtbar war, der konnte auch nicht bestraft werden.
Der Wunsch überkam ihn, wie ein Schwarm Heuschrecken, dunkel und brausend. Wenn er unsichtbar wäre, dann könnte er alles tun, was er wollte!
Und niemand könnte ihn davon abhalten.
Seine Religionslehrerin schoss ihm in den Sinn. Sie hatte einmal von einem Arzt für Verrückte erzählt. Der hatte herausgefunden, dass Menschen verschiedene Wesen in sich haben. Es gab ein Es , so etwas wie ein gefräßiges Tier, und dann ein Über-Ich , wie seine Mutter, die alles kontrollierte, und irgendwo dazwischen war man selbst, jedenfalls wenn man normal war.
Aber wenn man so war wie dieser Mann im Film, dann gab es kein Über-Ich mehr. Dann war niemand mehr über einem.
Das musste großartig sein.
Er stellte sich vor, wie er in das Haus von Jennys Eltern schlich, in Jennys Zimmer, ohne dass sie ihn sehen konnte, wie er sie beobachtete, ihr beim Ausziehen zusah, bis sie ganz nackt war, wie die Frauen in Vaters Zeitschriften. Oder er konnte Herrn Broich, seinem Deutschlehrer, ein Bein stellen, am besten kurz vor dem Bordstein. Wenn er sich dann die Vorderzähne ausschlug, dann würde Broich endlich wissen, wie es sich anfühlte, ständig von allen begafft zu werden.
Langsam erhob er sich aus seinem Bett. Sein Rücken loderte vor Schmerzen. Er trat ans Fenster und öffnete es sperrangelweit. Die eisige Winterluft überzog seinen Rücken wie Raureif. Sein Atem dampfte.
Wäre ich unsichtbar, dachte er, würde man jetzt nichts von mir sehen als diese Atemwolke.
Wäre ich unsichtbar, dann könnte ich jetzt ins Schlafzimmer von Ma und Pa schleichen. Ich könnte Pa die Hoden abschneiden und sie ihm in seine gelbe Fresse stopfen. Bis er dran erstickt.
Und Ma sollte zusehen. Das würde ihr eine Lehre sein.
2011
Kapitel 1
Èze – Côte d’Azur, 17. Oktober, 21:55 Uhr
Der Moment, als das Handy klingelte, war für Jan Floss der Moment, in dem alles losbrach.
17 Minuten zuvor hatte Jan nichtsahnend vor dem Panoramafenster gestanden und durch seine eigene Spiegelung hindurch in die Dunkelheit gestarrt. Vierhundert Meter unter ihm brandete das Meer. Das Azurblau der Côte d’Azur hatte sich in schwarzes Blei verwandelt, und der Himmel schien direkt ins Meer zu fließen.
Es goss in Strömen, bereits seit drei Tagen, und eine für diesen Teil der Küste untypische klamme Kälte kroch ihm in die Glieder. Verdammte Heizung. Verdammtes Haus. Seit wie vielen Jahren war sein Vater nicht mehr hier gewesen? Eigentlich seit Mutter ausgezogen war. Und da war Jan gerade zehn geworden. Also seit 24 Jahren. Kein Wunder, dass in diesem Haus nichts mehr funktionierte. Was für eine Schnapsidee, ausgerechnet hierher zu kommen. Zu wenig Heizung, zu viele Erinnerungen.
Seit drei Tagen hockten sie jetzt zu viert hier aufeinander, in einem 120-qm-Ferienhaus, von dem gerade einmal 30 qm halbwegs bewohnbar waren: das alte Elternschlafzimmer und das große Wohn- und Esszimmer mit dem Panoramafenster. Theos altes Kinderzimmer war immer noch abgeschlossen, als würde sein Geist hinter der Tür hausen. Jan wusste nicht, wo der Schlüssel für diese Tür war. Und selbst wenn er es gewusst hätte, er hätte es nicht über sich gebracht, sie zu öffnen.
Greg, Katy und Laura hatten es nicht mehr ausgehalten und waren mit Gregs Jeep zum Einkaufen runter in die Stadt – nach Beaulieu-sur-Mer, kurz vor Nizza.
Jan hatte sich entschieden zu bleiben. 30 qm Haus gegen 4 qm Auto tauschen? Nein danke! Erst recht nicht bei diesem Regen. Außerdem konnte er seiner 37-jährigen Schwester Katy nicht länger dabei zusehen, wie sie Greg anhimmelte, ganz so als gäbe es weder ihren Mann noch ihre Zwillinge. Dazu kam, dass Jan dem Einkaufen in Supermärkten nichts abgewinnen konnte. Endlose Regale, knallbunte Produkte und pausenloses Werbegedudel. Über Jahre hatte er diesen Mist und seine Wirkung auf Kunden untersucht. Die
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