Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
hatten sich die Soldaten des Sultans zurückgezogen. Viele Menschen aus Nischapur waren dorthin geflohen. Tod und Elend, Hunger, Krankheit und Panik herrschten allerdings auch in Schadyach. Gleich, in welchem Stadtteil Attar als Kind also lebte, er wuchs in einer Welt des Todes, der Grausamkeit, der Drangsal auf – zumal wenn es stimmt, daß bereits sein Vater als Drogist arbeitete und die Kranken behandelte.
Auch als die Ghuzz Nischapur verließen, kehrte für lange Zeit keine Ruhe mehr in die Stadt ein. Sandschar konnte zwar 1156, nach drei Jahren Gefangenschaft, den Ghuzz entkommen und auf seinen Thron in Marw zurückkehren, starb aber schon ein Jahr später an den Folgen der Haft. Die Ghuzz scheinen sich einen Spaß daraus gemacht zu haben, den Sultan zu peinigen. Kaum eines der Gebäude – allein fünfundzwanzig Medresen und zwölf Bibliotheken hatten die Ghuzz zerstört – wurde wiederaufgebaut. Schlimmer noch: Viele der Moscheen und Lehrgebäude in Nischapur, die stehengeblieben waren, wurden später im Zuge gewalttätiger Auseinandersetzung zwischen den theologischen Schulen der Schafiiten und Hanafiten zerstört, die nach dem Abzug der Ghuzz ausbrachen. Nach Sandschars Tod litt ganz Chorasan unter den Streitereien und Kämpfen zwischen den Mitgliedern seiner Familie und den Offizieren seiner Armee. 1158 ging der Basar der Drogisten in Flammen auf und mit ihm vielleicht das Geschäft von Attars Vater. Hunger und Elend hielten die Stadt in Bann. 1161 schlugen die Sandscharen ihr Hauptquartier in Schadyach auf. Ein Großteil der Bevölkerung Nischapurs folgte ihnen, so daß das Zentrum der Stadt mitsamt der Zitadelle vollends zerfiel, eine Behausung nur für Schafe, Schlangen und wilde Tiere. Nachdem schon 1145 ein Erdbeben Nischapur heimgesucht hatte, starben 1209 bei einem neuerlichen Erdbeben mehrere tausend Menschen. In der Umgebung verschwanden mehrere Dörfer von der Landkarte, ohne daß auch nur ein Bewohner überlebt haben soll.[ 49 ]
Als Apotheker und Arzt hatte Attar sein Leben lang mit der Not zu tun. Die Leiden, die sein Buch im Titel führt, umgaben ihn ganz real. Nicht nur sein Werk ist von Verrückten, Ausgeflippten, Spinnern bevölkert – die Gesellschaft, in der er lebte, muß es gewesen sein. Der Irrsinn seiner Zeit trieb nach zeitgenössischen Berichten auffallend viele Menschen in den Wahnsinn. Sie zogen als Vagabunden durch das Land oder hingen in den Dörfern und Städten von der Mildtätigkeit ihrer Nachbarn ab.[ 50 ] An einer Stelle im «Buch der Leiden» bezieht sich Attar explizit auf den Einfall der Ghuzz in Nischapur: Die gesamte Stadt samt den Behörden ist vor den Nomaden geflohen. Ein einziger Narr bleibt zurück. Er steigt auf einen hohen Turm, bindet seine Kutte an einen Stock, weht mit ihr als seiner Fahne und ruft:
– O Narrheit, für einen Tag wie diesen besitze ich dich! An einem solchen Tag, wenn die Angst allen Menschen das Herz geraubt hat, ist ein Herzverlorener König des ganzen Landes! (11/2, 143)
Als Attar sein «Buch der Leiden» schrieb, war Nischapur wohl bereits in die Hände der Chorezmier gefallen, die die Stadt 1187 zum zweiten Mal nach 1142 den Seldschuken abnahmen, und es herrschte der tyrannische Sultan Alaoddin Mohammad Chorezmschah. Gleichwohl lebte Nischapur wieder auf, die Händlerströme zogen wieder durch die Stadt. Aber in den Basaren erzählte man sich wahrscheinlich bereits die bedrohlichen Geschichten von den Mongolen, die in zeitgenössischen Berichten zitiert werden. Schon bevor sie in Chorasan eindrangen, sprachen diejenigen Iraner, die mit ihnen zu tun hatten – Händler vor allem –, von ihrem Unwissen und ihrer Brutalität. In Nischapur schlossen sich junge Leute zu einer Art Bürgerwehr zusammen, um gegen die neuen Eindringlinge besser gewappnet zu sein als ein halbes Jahrhundert zuvor gegen die Ghuzz. Tatsächlich schlugen sie die Mongolen, als diese Nischapur schließlich bestürmten, zunächst zurück und töteten einen Schwiegersohn und engen Vertrauten des Dschingis Khan. Auf eine solche Gegenwehr waren seine Reiter auf dem Feldzug noch nicht gestoßen. Als den Mongolen die Stadt, vermutlich am 10. April 1221, doch noch in die Hände fiel, wüteten sie zwei Wochen lang, bis in Nischapur kein Stein mehr auf dem anderen stand. Bis auf vierhundert Handwerker und Künstler, die als Sklaven zum Hof des Khans verschleppt wurden, konnte kaum jemand in der Stadt dem Tod entfliehen. Attars Manuskripte müssen vorher schon in andere
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