Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Mächtigen weder Verbote noch Moral auferlegte und den Armen keinen Schutz vor den Soldaten bot. Die nahmen sich, was sie wollten, Hab und Gut, Frauen und Kinder. Chorasan war freigegeben zur Plünderung, und ausgeplündert wurde, wer sich keine Armee leisten konnte. Die schönsten Frauen verschleppten die Truppen des Kalifen Abu l-Abbas Ahmad an-Nasir li-Din Allah (gest. 1225) in dessen Harem nach Bagdad, mochte sich der Nachfolger des Propheten öffentlich mit seiner neuerworbenen theologischen Kompetenz brüsten und die Einheit von religiöser und staatlicher Autorität wiederherzustellen versuchen. Die Städte Marw und Nischapur wurden immer wieder von Raubzügen heimgesucht, Samarkand kämpfte gegen die türkischen Chorezm, und das östliche Ghaznawidenreich war bis in sein Zentrum von Kämpfen und Feuersbrünsten geplagt. Es war eine erregte, blutige Zeit, in der Raub, Hurerei und Trunksucht sich ebenso ausbreiteten wie Mystik, Askese und Innerlichkeit. Alaoddin Mohammad Chorezmschah (gest. 1220) prahlte mit seiner Liebe zum Sufismus und ließ aus einer Laune heraus Madschdoddin Charazmi, den großen Sufi der Epoche, den zuvor auch Attar aufgesucht hatte, im Oxus ertränken. Die Rechtswissenschaft in Chorasan beherrschten einzelne Clans oder Großfamilien, so daß theologische Autorität sich weniger Bildung und Moral verdankte als der Abstammung und guten Beziehungen. Kritik an Herrschern und Geistlichen wurde mit dem Vorwurf des Unglaubens beantwortet, Protest, wo es ihn gab, scharf unterdrückt. Immerhin, so ergänzt Abdolhasan Zarin-Kub, der die Verhältnisse im Chorasan Attars eindringlich schildert, immerhin waren sie in mancherlei Hinsicht doch auch besser als diejenigen, die achthundert Jahre später, also im Iran des großen Literaturwissenschaftlers selbst, herrschen, hatte die politisch-religiöse Macht noch nicht vollständig von Bildung, Forschung, Literatur und überhaupt von der Kreativität Besitz ergriffen.[ 47 ]
Allzuoft übergeht die Interpretation seiner Dichtung, daß die Hölle, die Attar auf Erden sah, nicht nur ein Gleichnis innerer Zustände, sondern leibhaftige Realität war. Wenn Attar um 1145 geboren ist, hat sich ihm das Leben bereits zu Kindeszeiten in größtmöglicher Brutalität vorgestellt. 1153 fielen die Ghuzz in Nischapur ein, turkmenische Nomaden, die gegen den seldschukischen Sultan Sandschar aufbegehrt hatten. Der hatte die Ghuzz mittels seiner Steuereintreiber ausgebeutet, um seine Feldzüge zu finanzieren.[ 48 ] Durch die Gedankenlosigkeit des Sultans weitete sich der lokale Aufstand in einen landesweiten Rachefeldzug aus. Als der Sultan auf einer Reise den Ghuzz in die Hände fiel und seine verängstigten oder korrupten Soldaten keinen Befehlshaber mehr hatten, fielen die Siedlungen Chorasans den Turkmenen kampflos in die Hände. Die Menschen in Nischapur flohen aus der Stadt oder vergruben zumindest ihre Schätze. Die Läden waren geschlossen, die Basare wie ausgestorben. Als die Ghuzz schließlich die Stadt einnahmen, raubten sie ohne Unterschied die verlassenen wie die bewohnten Häuser aus. Männer wurden gefoltert, damit sie verrieten, wo sie ihren Besitz versteckt hatten, Frauen vergewaltigt, Mädchen und Jungen mißbraucht. Um die Armbänder und Halsketten der Frauen zu stehlen, schnitten sie ihnen, wenn’s rasch gehen sollte, Arme und Köpfe ab. Kinder flohen, streunten elternlos umher, Frauen suchten mit ihren Säuglingen Zuflucht. Wer im Verdacht stand, seinen Besitz zu verstecken, den erwarteten Prügel, und manchmal schlugen die Ghuzz auch die Besitzlosen, nur um die übrigen einzuschüchtern. Auf ihrer Suche nach den vergrabenen Gütern der Einwohner hoben die Ghuzz jeden Tag neue Gräben aus, und in jeder Nacht loderten irgendwo Feuer, in denen verbrannte, wer es wagte, sich gegen die Plünderer zu wehren. Weil aus den Dörfern der Umgebung keine Lebensmittel mehr in die Stadt geliefert wurden, herrschte Hunger. Die Medresen waren geschlossen, wie alle anderen hielten sich auch die Gelehrten und ihre Schüler versteckt. Der Mufti und größte Gelehrte der Stadt, Mohammed ebn-e Yahya, rief in einer Fatwa zum Widerstand auf; die Ghuzz nahmen ihn fest und stopften seinen Mund mit weicher Erde aus, bis er an der Folter starb.
Es gibt keinen Hinweis darauf, daß das Haus von Attars Eltern, die in Nischapur oder in dem nahegelegenen Dorf Schadyach lebten, geplündert worden ist. Schadyach, so weiß man, blieb von den Plünderungen verschont, denn dorthin
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