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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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zum Vorboten einer Aufklärung, hinter welche die geistige und gesellschaftliche Gegenwart Irans an vielen Stellen zurückfällt, zumal an den höchsten. Das Nachahmen, taqlid, ist Attar ein beinah ebensolches Schimpfwort wie der Dogmatismus, taaṣṣob. Eselskinder seien nun einmal nicht für den Weg der Scharia geschaffen, sagt er; wenn sie ihn dennoch gingen, wüßte man, daß sie blind ihrer Mutter folgten. Weil das religiöse Gesetz dem Menschen nicht als Natur mitgegeben sei, könne kein Zwang ihm die Entscheidung abnehmen, es zu befolgen.
Wer den Weg geht, nur um anderen zu folgen,
            Mag groß tun wie ein Berg und ist doch leichter als Stroh.
            (0,38)
    Weit davon entfernt, die Gebote und Rituale des Islams aufweichen zu wollen, verhehlt Attar, anderen Mystikern gleich, nicht seine Distanz zu den äußerlichen Formen der Religion: Ein Hindu sieht eine muslimische Karawane zur Wallfahrt aufbrechen und erfährt, daß Gott ein Haus haben soll. Trunken vor Freude und Hoffnung bricht er sofort auf und wandert nach Mekka. Endlich an der Kaaba angekommen, fragt er, wo denn nun Gott sei. Als die Pilger ihn darüber aufklären, daß Gott natürlich nicht in dem Hause wohne, verliert er die Fassung und beschimpft die Muslime, daß sie ihn zu der anstrengenden Reise veranlaßt haben:
    – Was nützt mir denn das Haus ohne seinen Herrn? (19/4, 198)
    Das Gesetz gehört zum Glauben, aber ohne den Glauben ist das Gesetz nichts. Die Menschen brauchen es, deshalb ist es wichtig. Wer es nicht braucht, für den ist das Gesetz aufgehoben: für die Propheten, Heiligen und Narren. Mose darf die Gesetzestafeln zerbrechen, weil er ein Liebender ist (27/4, 255). Nach der Gebetsrichtung gefragt, antwortet Madschnun:
    – Die Kaaba, wenn du ein Ziegelstein bist, Gott, wenn du liebst, und das Antlitz Leylas für Madschnun. (19/6, 198f.)
    Häufig dienen Attar die Geschichten zum Ausdruck ethischer Leitsätze. Sie mahnen zur Bescheidenheit, zur Großmut und dazu, sich nicht an materielle Dinge zu binden. Als Alexander nach China kommt, setzt ihm der Kaiser Edelsteine und Perlen zur Speise vor.
    – Das ist doch nicht zum Essen! empört sich Alexander.
    – Ißt man etwa bei euch in Griechenland keine Juwelen? fragt der Kaiser, scheinbar erstaunt.
    – Ach, zwei Brote esse ich am Tag, prahlt sein Gast: Mehr brauche ich nicht.
    – Aber sind denn diese zwei Brote in ganz Griechenland nicht zu finden, daß du fortgehen und so viele Länder, Städte und Menschen unterjochen mußtest?
    Von diesen Worten beschämt, verkündet Alexander, genug zu haben von den Eroberungen, und bricht zur selben Stunde auf (24/3, 115).
    Wenn ich recht sehe, ist Jesus das Vorbild, das Attar am häufigsten anführt, etwa wenn er von einer Reise erzählt, die Jesus mit einem Gefährten unternimmt. Drei Brote hat Jesus bei sich. Eines verspeist er selbst, eines gibt er dem Gefährten, das dritte bleibt übrig. Als Jesus anhält, um aus einem See zu trinken, ißt der Gefährte das dritte Brot heimlich auf. Jesus kommt zurück und fragt ihn, wo das Brot geblieben sei.
    – Ich weiß von nichts, antwortet der Gefährte.
    Sie setzen die Reise fort und kommen zum Meer, über das sie wandeln.
    – Bei dem Gott, der dieses Wunder bewirkt hat, sage mir die Wahrheit über das Brot, bittet Jesus den Gefährten.
    – Ich weiß wirklich von nichts, sagt der Gefährte.
    Sie setzen die Reise fort und entdecken eine Gazelle, die Jesus durch bloßen Anruf erlegt, damit sich die beiden von ihrem Fleische nähren, bevor Jesus den Knochen neues Leben einhaucht und die Gazelle davonspringt. Wieder fragt Jesus den Gefährten nach dem Brot, wieder beschwört der Gefährte, ahnungslos zu sein. Sie setzen die Reise fort und gelangen zu drei Erdhaufen. Jesus verwandelt sie in Gold und sagt:
    – Der eine Haufen gehört mir, der andere dir, und der dritte dem, der das Brot heimlich gegessen hat.
    – Ich war’s! ruft der Gefährte sofort.
    Nachdem er den Betrüger auf diese Weise entlarvt hat, zieht Jesus allein weiter, ohne sich weiter um die drei Goldhaufen zu kümmern. Danach kommen zwei andere Leute, sehen das Gold und fangen mit Jesu ehemaligem Gefährten Streit an. Schließlich einigen sie sich, das Gold zu teilen. Da sie hungrig sind, schicken sie einen von ihnen fort, damit er in der Stadt Brot kauft. Dieser geht, ißt sich satt und vergiftet das Brot, das er mitbringen soll. Die beiden anderen verabreden sich, den Dritten zu töten und

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