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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Städte gelangt gewesen sein, oder Flüchtlinge haben sie mitgenommen. In Nischapur selbst blieb nichts erhalten. Wie ein Chronist schreibt, hinterließen die Mongolen nur rauchende Ruinen, in deren Todesstille sich gelegentlich das Bellen eines Hundes verirrte, das Krähen eines Hahns oder das Heulen von Wölfen. Vielleicht hat Attar das Bild vorhergesehen, das sich dem Chronisten bot, vielleicht hat er auch nur das Wüten der Ghuzz im Nischapur seiner Kindheit vor Augen gehabt oder einen der anderen Raubzüge, den seine Stadt durchlitten hat, oder er meinte eine der anderen Städte Chorasans, von deren Zerstörung er zu Lebzeiten erfuhr, jedenfalls wird er kaum seine Phantasie angestrengt haben müssen, als er im «Buch der Leiden» von dem Narren erzählte, der in «eine einst starke, aber nun sehr zerstörte Stadt» kam, «die in der nackten Sonne schon von Kopf bis Fuß vom Salz aufgefressen worden war».
Wohin der Blick auch ging, alle Mauern, alle Türen,
            Alles hatte sich kopfüber gestürzt, ein wildes Gemenge.
    Staunend sah der Narr auf die «Zeugnisse des Zorns», konnte die Augen nicht schließen, verweilte bis über die Mittagssonne hinaus, setze sich und schaute immer noch ungläubig, als jemand des Weges kam und ihn fragte:
    – Was sitzt du hier wie angewurzelt, Wandernarr, so verwirrt und niedergebeugt? Was staunst du?
    – Ich staune, denn als diese Stadt noch stand, glänzte und voll von Menschen war, wo war ich da, daß ich von ihr nicht wußte? Und jetzt, da ich hier bin, wo sind die vielen Menschen? Wo war ich damals, wo sind sie jetzt? Als ich nicht war, waren sie, und als ich auftauchte, waren sie verschwunden. Ich verstehe das nicht, und deshalb staune ich. Wer weiß, was dieser Zirkel zu bedeuten hat und ob es etwas gibt, das nicht von ihm erfaßt würde? So viel bin ich gewandert, ohne etwas zu finden, worauf ich mein Herz verloren habe und meinen Verstand. Niemand entgeht der Verwirrung. Niemand erfährt den Sinn dieses Kommens und Gehens. (16/9, 180)
    In der deutschen Geschichte läßt sich die Zeit, in der Attar dichtete, wohl am ehesten mit dem Dreißigjährigen Krieg vergleichen, dem im Thüringischen, Pfälzischen, Pommerschen und Württembergischen zwei Drittel der Bevölkerung zum Opfer fielen. Und es wird kein Zufall sein, daß die Epoche der marktwirtschaftlich organisierten Gewalt, als Kriegsunternehmer wie Albrecht von Wallenstein (gest. 1634), Ernst zu Mansfeld (gest. 1629) oder Gottfried Heinrich zu Pappenheim (gest. 1632) ihre Truppen wie Heuschrecken über die Dörfer ausschwärmen ließen, um sie kahlzufressen, daß diese gewalttätigsten drei Jahrzehnte vormoderner deutscher Geschichte mit Andreas Gryphius (gest. 1664) den deutschen Schmerzensdichter hervorbrachten, der Attar am nächsten steht: «Ich weyne Tag und Nacht/ich sitz in tausend Schmerzen.»[ 51 ] Die zerstörten Städte, die Gryphius betrauerte, hätten bis auf ihre Kirchtürme auch in Chorasan liegen können.
Wir sind doch nurmehr gantz/ja mehr denn gantz verheeret!
            Der frechen Völcker Schaar/die rasende Posaun
            Das vom Blut fette Schwerdt/die donnernde Carthaun/
Hat aller Schweiß/und Fleiß/und Vorrath auffgezehret.
Die Türme stehn in Glut/die Kirche ist umgekehret.
            Das Rathaus ligt im Grauß/die Starken sind zerhaun/
            Die Jungfern sind geschändt’t/und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer/Pest/und Tod/der Hertz und Geist durchfähret.
            Hir durch die Schantz und Stadt/rinnt allzeit frisches Blutt.
            Dreymal sind schon sechs Jahr/als unser Ströme Flutt/
Von Leichen fast verstopfft/sich langsam fort gedrungen.
            Doch schwieg ich noch von dem, was ärger als der Tod/
            Was grimmer denn die Pest/und Glutt und Hungersnoth/
Das auch der Seelen Schatz/so vilen abgezwungen.[ 52 ]
    Kein anderer deutscher Dichter war von solch aussichtsloser Frömmigkeit, niemand hat das Irdische, das er von der Gewalt und der Gemeinheit der Menschen entweiht sah, so gläubig provokant als Schauplatz menschlicher Heilsvergessenheit beschrieben wie Gryphius. Seine Werke – Grabreden, Gedenksonette, Traueroden – sind eine gewaltige, mal mit Entsetzensvisionen hämmernde, mal kraftlos flüsternde, vom Leid in den Irrsinn getriebene Verlustanzeige des Menschlichen, die wie bei Attar in die offene Anklage übergeht:

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