Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
desto ausgeprägter die Not, eine Hierarchie der Erkenntnis, die Schopenhauer so formulierte: «Je niedriger ein Mensch in intellektueller Hinsicht steht, desto weniger Rätselhaftes hat für ihn das Daseyn selbst: ihm scheint vielmehr sich Alles, wie es ist, von selbst zu verstehen.»[ 58 ] Gelänge es einem Menschen, so führt Nietzsche den Gedanken weiter, «das Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen».[ 59 ]
Wer am Leben so viel leidet, sehnt sich nach nichts mehr außer nach Vernichtung.
– Ich will überhaupt nichts von dir, spricht nächtens ein Narr zu Gott: Was Du mir bis jetzt gegeben hast, reicht mir, das ist mir schon viel zu viel. Ja, nimm es zurück, dieses Leben, das Du mir gegeben hast, ich will es nicht. (22/3, 216)
Es ist das Sophokles’sche «O, wäre ich nie geboren», das Attar deklamiert. Es ist das Hiob’sche «Der Tag müsse verloren sein, darinnen ich geboren bin» oder Jeremia 20,7:
Der Tag soll sein wie die Städte, die der Herr vernichtet hat ohne Erbarmen. Am Morgen soll er Wehklage hören und am Mittag Wehgeschrei, weil er mich nicht getötet hat im Mutterleibe, so daß meine Mutter mein Grab geworden und ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre.
Attar variiert mit seinen Seinsverwünschungen einen Topos, dessen erster Beleg sich bereits im alten Ägypten findet, genau gesagt in der Ersten Zwischenzeit um etwa 2000 v. Chr.: «Das Elend des Lebens ist so unermeßlich: Ich wünschte, ich wäre tot; und schon die kleinen Kinder sagen: Hätte man mich doch nicht ins Leben gerufen.»[ 60 ] Von Hesiod (um 700 v. Chr.), Theognis (6. Jh. v. Chr.) und Herodot (gest. 429 v. Chr.) bis Euripides (gest. ca. 406 v. Chr.), Sokrates (gest. 399 v. Chr.) und Seneca (gest. 65) zieht sich der Wunsch, nicht geboren zu sein, durch die griechische und römische Tragödie und Philosophie. Dagegen erklären die monotheistischen Religionen die Schöpfung zum Werk Gottes und tabuisieren damit tendenziell die Sehnsucht, nicht geschaffen zu sein. Wo die zitierten Stellen aus Jeremia, Hiob oder auch die Jesusworte aus der Abendmahlszene «Es wäre ihm besser, daß er nie geboren wäre» (Matth. 26,24; Mark. 14,21) zu deuten waren, wurde die Verwünschung des Daseins zur Verwünschung des Menschen umgebogen – zur Selbstverfluchung also. «Der Mensch verflucht den Tag seiner Geburt, weil er erst dadurch die Möglichkeit zur Sünde gewinnt», faßt ein exegetisches Lehrbuch aus dem Jahr 1646 den Konsens der bis dahin vertretenen Lehrmeinungen zusammen.[ 61 ] Aber nicht erst bei Shakespeare (gest. 1616), Voltaire (gest. 1778) und Lord Byron (gest. 1824) wird aus der Verwünschung der Geschöpfe wieder die Verwünschung der Schöpfung, sondern auf breiter Flur schon in der klassischen arabischen wie persischen Literatur:
Da die Gestirne nichts als Leid mehren,
kein Ding ersetzen ohne es wieder zu rauben:
Wenn die Ungeborenen wüßten, was wir vom All
an Leid erfahren – sie würden uns nicht entgegengehen.[ 62 ]
Keineswegs nur Freidenker wie Omar Chayyam, von dem diese Verse stammen, oder al-Maarri preisen den Vorzug des Todes vor dem Leben: Ibn Abi d-Dunya (gest. 894) verfaßte eine eigene Schrift über die Prophetengenossen, Nachfolger und alten Frommen, die sich Hiobs Wunsch, nicht geboren zu sein, zu eigen machten oder – da sie ja nun einmal schon auf der Welt waren – wenigstens «grünes Kraut» sein wollten, das «vom Kamel gefressen» werde.[ 63 ] Ibn asch-Schibl (gest. 1081) verfluchte gar «die Lust, die zu unserem Unheil Mütter und Väter genossen».[ 64 ] Im «Buch der Leiden» legt Attar dem Propheten Mohammed selbst den Wunsch in den Mund: «Hätte mich Gott doch nicht ins Dasein gerufen.» (35/8, 318) Spätestens mit Gryphius («Diß alles stinckt mich an/drumb wündsch ich mir den Tod!»)[ 65 ] ist der Topos der Existenzverwünschung auch in die deutsche Literatur und Philosophie eingezogen, wo Nietzsche und Schopenhauer, Heine und Hölderlin (gest. 1843), Bahnsen (gest. 1881) und Büchner sich gegenseitig in Denunziationen des Seins übertrafen.[ 66 ] Im 20. Jahrhundert beklagt am prominentesten Cioran den «Nachteil, geboren zu sein», wie sein berühmtestes Buch heißt. Sigmund Freud erhob den «Todestrieb» zum Menschenprinzip, dem er mit zunehmendem Alter auch selbst unterlag. Unmittelbar nach seiner gern zitierten Diagnose, daß Hamlets Frage «krank» sei, schrieb der todkranke
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