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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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«Ach! Er verdeckt sein Angesichte! Macht mich in höchster Not zunichte.»[ 53 ] Wenn Gryphius 1657 in seinem «Thränen- und Danck-Lied» die Pest von Glogau schildert, dann ist Gott nicht mehr der Friedensvater, sondern jener Feind Hiobs, den auch Attar kennengelernt hat: «Herr ach! kannst du so schrecklich handeln,/In Grausamkeit dich selbst verwandeln?» Dabei sind die Menschen, die Gott zum Ziel der Rache erkoren hat, doch ohnehin «nichts denn Staub und Dampff», wie Gryphius im selben Gedicht sagt;[ 54 ] «Schaum hier, Schaum da, und du eine Blase nur», hieß es bei Attar (17/6, 186). Vergänglichkeit ist für keinen der beiden Dichter ein philosophisches Problem, sondern alltägliche Erfahrung in einer Welt, in der Menschenleben hinuntergeschluckt werden wie Wasser. Um es mit Gryphius zu sagen: «Itzt Blumen, morgen Kot».[ 55 ] Attar erzählt vom Scheich Abu Said Fazlollah ebn-e Abi l-Cheyr, der vor einer Latrine stehenbleibt und sie aufmerksam und lange betrachtet.
    – Was tust du da? wird er gefragt.
    – Der Kot spricht zu mir. Er sagt: Auch ich war einmal eine Gottesgabe. (17/2, 182)
Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhauß grimmer Schmertzen
            Ein Ball des falschen Glücks/ein Irrlicht dieser Zeit.
            Ein Schauplatz herber Angst/besetzt mit scharffem Leid/
Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrante Kertzen.
Diß Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Schertzen.
            Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
            Vnd in das Todten-Buch der grossen Sterblikeit
Längst eingeschrieben sind/sind uns aus Sinn und Hertzen.
            Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt/
            Vnd wie ein Strom verscheust/den keine Macht auffhält:
So muß auch unser Nahm/Lob/Ehr und Ruhm verschwinden/
            Was itzund Athem holt/muß mit der Lufft entflihn/
            Was nach uns kommen wird/wird uns in das Grab nachzihn.
Was sag ich? wir vergehn wie Rauch von starcken Winden.[ 56 ]
    Es sind wohl Zeiten des endzeitlich anmutenden Niedergangs, des Zusammenbruchs eines geistigen und sozialen Gefüges, in denen nicht nur Dekadenz wie Weltflucht grassieren, sondern Dichtungen wie «Das Buch der Leiden» entstehen. Vielleicht korrespondiert es auch deshalb mit Wahrnehmungen des 20. Jahrhunderts.
Das Werk der Welt ist’s, geboren zu werden, um zu sterben,
            Von hier zu erscheinen, von dort zu verschwinden.
Das Werk der Welt ist’s, niemals zu enden.
            Bis in die Ewigkeit zu schmerzen, niemals zu heilen.
Das Werk der Welt ist’s, unsere Kräfte zu übersteigen,
            Daß nie wir genesen, mögen noch so viel wir schrei’n.
            (23/11, 226)
    Sehnsucht nach dem Nichts
    «Das Buch der Leiden» ist ein wenig bekanntes, aber so furchterregendes wie verstörendes Stück Weltliteratur. Nicht nur in seiner hoffnungslosen Schwärze, auch in seinem pechschwarzen Humor spricht es zu uns, etwa wenn Attar die Geschichte jenes Narren erzählt, der Becketts Satz, daß wir rittlings über dem Grabe geboren werden, gekannt haben muß: Nach einer Beerdigung bleibt er einfach am Grab sitzen und richtet sich ein. Als man ihn fragt, warum er denn nicht in die Stadt zurückkehre, gibt er zur Auskunft, daß er nicht mehr unnötig einen Umweg gehen wolle.
    – Weh, daß ich gehe, schade, daß ich gekommen bin, wendet der Narr sich vom Fragenden ab. (4/3, 90f.)
    Es geht noch knapper: Der berühmte Asket Ibrahim ibn Adham (gest. zwischen 776 und 790) wird von einem Reiter nach der nächstliegenden Menschensiedlung gefragt und weist ihm dem Weg zum Friedhof (18/5, 192). Und auch drastischer: Ein Weiser kommt an einem Totenacker und einem Misthaufen vorbei und spricht:
    – Dieses ist die Gottesgabe, und jenes sind die, die sie verzerrten. (17/5, 184)
    Erkenntnis wird ähnlich wie bei Schopenhauer darauf reduziert, die Sinnlosigkeit zu erkennen. Deshalb geht sie mit Leid zwingend einher. Wie generell in der islamischen Mystik leiden bei Attar die Propheten am meisten, dann die Heiligen, die Weisen, die Frommen und so weiter: Bei Attar allerdings weist der Ausspruch Mohammeds: «Wenn ihr wüßtet, was ich weiß, ihr würdet viel weinen und wenig lachen»,[ 57 ] der gewöhnlich im Sinne einer Jenseitsdrohung ausgelegt wird, auf das Leiden am Sein hin. Je wacher das Bewußtsein,

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