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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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seinen Anteil an dem Gold unter sich zu teilen. Als der Dritte zurückkehrt, töten sie ihn tatsächlich, nur um kurz darauf an dem vergifteten Brot zu sterben. Jesus kehrt zurück und sieht die drei Leichen. Da verwandelt er das Gold wieder in Erde, damit es nicht noch mehr Menschen umbringe (15/1, 169ff.).
    Indem er sich vom Weltlichen vollständig abwendet, wirken die Lebensmaximen Attars, vergleicht man sie mit der Sinneslust eines Omar Chayyam, wie aus einer anderen, früheren Welt. Anders verhält es sich mit seiner Ethik, die von Barmherzigkeit erfüllt ist, von Liebe, Freigebigkeit und Toleranz im beschriebenen, prämodernen, aber vielleicht eigentlichen Sinne: Attar und seine Heiligen befinden den Glauben des anderen nicht für recht (dann würde sich ihre Nachsicht erübrigen), doch rufen sie an vielen Stellen dazu auf, selbst das Falsche gelten zu lassen. Wohl auch, weil auf den Gott, den Attar porträtiert, kein Verlaß ist, berühren viele seiner Verse durch eine Haltung, die auf den heutigen Leser hier aufklärerisch, dort existentialistisch wirkt: Da wird fortwährend die Verantwortlichkeit des Individuums herausgestellt und mehr als in jedem anderen klassisch-persischen Werk der psychologische Schöpfungsprozeß des Schreibens zur Sprache gebracht; da gibt es – genauso wie in den «Vogelgesprächen» – ein eigenes Kapitel gegen den Fanatismus und dutzendweise Plädoyers für Barmherzigkeit, Nachsicht, Nächstenliebe und für so neumodisch scheinende Phänomene wie den religiösen Pluralismus, der mehr als nur akzeptiert, vielmehr als Reichtum gepriesen wird. Noch den Unglauben erklärt Attar an einer Stelle dialektisch als notwendige und daher in seiner Existenz berechtigte Voraussetzung, um den Glauben zu erkennen (40/2, 358). Solche Positionen und insgesamt die Individualität des Schreibens, der Wahrnehmung und der Überzeugungen wirken wie Vorboten der Moderne. Daß sie so explizit und wiederholt in einen Text des 12. oder frühen 13. Jahrhunderts hineingefunden haben, deutet jedoch zunächst auf die Ausbreitung und sufische Aneignung jenes Humanismus, der sich bereits unter den Buyiden in Bagdad herausgebildet hat – ein Humanismus allerdings, den Attar als gefährdet ansah, sonst hätte er ihn kaum so zornig vertreten.[ 44 ] Spätestens mit dem Einfall der Mongolen bestätigten sich Attars Befürchtungen. Zugleich lebte er in ebenjener Epoche, in welcher Europa in allen Bereichen die Anregungen aus dem Mittleren Osten in sich aufnahm und den Menschen als Subjekt zu entdecken begann. So nimmt das 12. Jahrhundert, wie seit Charles Homer Haskins Buch The Renaissance of the Twelfth Century von 1927 immer deutlicher geworden ist, auch im Westen eine Sonderstellung ein als eine Zeit der Erschütterung religiöser Weltbilder und des Übergangs zu rationaleren Bewußtseinsstrukturen (entgegen der tradierten Vorstellung, daß dieser Prozeß erst im Italien des 14. Jahrhunderts einsetzt). Der Humanismus, um den Attar fürchtete, entwickelte sich weiter in einer anderen Kultur.[ 45 ]
    Endzeit
    Die Verzweiflung, die im «Buch der Leiden» so radikal vertreten wird wie in keinem Werk Attars oder überhaupt der mystischen Literatur Persiens (vergleichbar düster dichtet allenfalls Omar Chayyam, der außerhalb der Mystik steht, doch läßt er das Glück des sinnlichen Genusses gelten, das die Welt nicht besser, aber erträglicher macht), diese rigorose Negation wird durch die historische Situation, die sich Attar im Alter geboten haben dürfte, nicht erklärt – aber verständlicher wird sie durchaus. Sowenig man über Attars Biographie weiß, so weiß man aus den Büchern der Chronisten und Geschichtsschreiber doch recht genau, welches Grauen, welche Wirrnisse die Welt bereithielt, in der er lebte.[ 46 ] Die Ordnung der einst prachtvollen Seldschukendynastie in Bagdad war zusammengebrochen. In Chorasan nahmen sich die Seldschuken und die Choresmier gegenseitig die Städte ab und verloren sie wieder, turkmenische Nomadenstämme nutzten die Schwäche der Dynastien, um in den Dörfern und Städten zu wüten; die Ghaznawiden kämpften im Osten um ihr Überleben, im Westen der islamischen Welt kämpften die Muslime gegen die Kreuzfahrer. In den Trümmern der seldschukischen Herrschaft schuf sich – nicht so sehr anders als heute im Norden und Osten des historischen Chorasan – jeder Fürst, jeder Gouverneur, jeder warlord, jeder Kommandeur und jeder Grundbesitzer seine eigene kleine Despotie, die den

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