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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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das Kind zu retten, verspricht er jener Sklavin die Freiheit, die die Kiste holt. Alle vierhundert Sklavinnen stürzen sich ins Wasser. Als eine Sklavin mit der Kiste in der Hand an Land schwimmt, schenkt er auch den übrigen die Freiheit. Befragt nach seinem sonderbaren Entschluß, antwortet er, daß er den Sklavinnen nun einmal Hoffnung ins Herz gelegt habe. Weil Hoffnung nicht enttäuscht werden solle, schenke er allen vierhundert die Freiheit.
Selbst dieser Verfluchte zeigte Erbarmen,
        Obwohl doch gegen Gott nur Haß trug sein Herz.
Die Geschöpfe alle, verborgen wie offen,
        Sehnen sich nach dem Wahrhaften.
Alle wollen Ihn, doch Er muß sie nicht wollen,
        Und bis Er sie nicht will, ist ihr Wollen vergeblich.
Pharao der Verfluchte, sogar sein Herz voll Güte,
        Wollt’ im Inner’n nah sein dem Herrn.
Was nützte es ihm, da der Wahrhafte
        Nicht wollte, was der Verfluchte sich wünschte.
        (6/5, 108f.)
    Wie groß die Sünden gewesen sein mögen, die Pharao auf sich geladen hat, was immer man für Erklärungen anführen mag, um Gottes Unerbittlichkeit zu entschuldigen – von der Moral, die Attar vom Menschen in unzähligen Geschichten einfordert, ist solches Handeln himmelweit entfernt. Ein Jüngling grämt sich, weil er die Pilgerfahrt versäumt hat. Da schenkt ihm der Theologe Sufyan ibn Thawri (gest. 778) seine vier Pilgerfahrten (34/8, 308). Der Seldschukenwesir Nezamolmolk ißt aus Großmut die bitteren Gurken, die ihm ein Gärtner als Geschenk darbringt, um den Geber vor dem Hof nicht bloßzustellen, und bedankt sich obendrein mit dreißig Dinaren (6/3, 107). Ein Finanzbeamter veruntreut das Geld Sultan Mahmuds. Zur Rede gestellt, gesteht der Beamte sein Vergehen ein. Er sei arm, und der Sultan sei reich, habe er sich gedacht und auf Mahmuds Güte vertraut. Daraufhin vergibt ihm der Sultan das Vergehen (6/4, 107f.).
    Nicht allein Attar, der gesamten islamischen Mystik ist die neutestamentliche Tugend vertraut, Böses mit Gutem zu vergelten. Die entsprechenden Worte der Evangelien und vor allem die Bergpredigt sind «im Islam zum Allgemeingut geworden», wie Tor Andrae in seinem kleinen, aber überaus gehaltvollen Buch über die frühen Sufis schrieb.[ 85 ]«Haltet die Verbindung aufrecht zu dem, der mit dir bricht, gib dem, der dir verweigert, vergib dem, der dir Unrecht tut», soll der Prophet gesagt haben.[ 86 ] Al-Ghazali, der das Hadith anführt, zitiert anschließend zur Bekräftigung Matthäus 5,38–41:
    Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: «Auge um Auge, Zahn um Zahn.» Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich jemand nötigt, eine Meile zu gehen, so gehe mit ihm zwei.
    Das ist ein immer wiederkehrendes Muster sufischer Logik, gerade bei Attar und oft in wörtlicher Anwendung: Nachsicht zu üben gegen Feinde, Haß zu vergelten mit Liebe, Angriffe zu belohnen statt zu rächen, Dieben, die das Haus ausgeräumt haben, zurückgelassene Güter hinterherzutragen, jene zu entschuldigen, die fehlgegangen sind. «Von den Menschen kommt der Gott am nächsten, der seinen Geschöpfen den meisten Spielraum gewährt», sagt Bayezid Bestami.[ 87 ] Sahl at-Tustari definiert das Sufitum geradezu durch die Absage an jede Vergeltung: «Sufi ist, wer glaubt, man dürfe sein Blut ungestraft vergießen und sein Eigentum sei herrenloses Gut.»[ 88 ] Das Vorbild dieses Ethos, das die Sufis wohl häufiger angeführt haben als ihren eigenen, den letzten Propheten, ist Jesus. So wurde die frühislamische Askese auch einfach mit «Den Weg Christi befolgen» bezeichnet. Einer schiitischen Überlieferung zufolge soll schon der erste Imam der Schia, Imam Ali (ermordet 661), die vorbildlichen Gläubigen als diejenigen bezeichnet haben, die der Welt gebieten, «dem Weg Christi zu folgen».[ 89 ] Für die Sufis ist es Jesus, der Schlechtes mit Gutem vergilt, auch in die Häuser der Dirnen geht, weil der Arzt die Kranken besuchen muß, und die Kinder Israels fragt:
    – Wo wächst die Saat?
    – Im Staube.
    – Wahrlich, ich sage euch: Die Weisheit kann nur in einem Herzen wachsen, das wie Staub geworden ist.[ 90 ]
    Den Ausspruch Jesu «Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, der wird

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