Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
erhöht» (Matth. 23,12) variiert die folgende Geschichte, die Abu Nuaym al-Isfahani (gest. 1037) aufgezeichnet hat:
Jesus und einer von seinen Jüngern gingen einmal an einem Räuber vorbei, der in seinem Felsennest auf der Lauer lag. Als der Räuber sie sah, gab ihm Gott ein, daß er Buße tun solle. Er dachte: «Hier ist nun Jesus, Sohn der Maria, Gottes Geist und Sein Wort, und hier ist dieser Jünger von Ihm. Aber was bist du, Elender? Du bist ein Räuber unter den Kindern Israels. Du hast im Hinterhalt an den Wegen gelegen, hast den Menschen ihr Eigentum genommen und ihr Blut vergossen.» Er stieg also vom Berg herunter, erfüllt von Reue über das Leben, das er gelebt hatte. Als er Jesus und den Jünger gefunden hatte, sprach er zu sich selbst: «Du willst mit ihnen zusammengehen? Das bist du nicht wert. Geh hinter ihnen her – wie ein Frevler und Sünder mußt du gehen.» Als sich der Jünger nun umwandte und den Räuber wiedererkannte, dachte er: «Sieh diesen elenden Schurken, der hinter uns hergeht!» Aber Gott sah die Gedanken ihres Herzens: bei dem einen Reue und Bußfertigkeit – bei dem anderen Hochmut und Verachtung, und sandte eine Offenbarung zu Jesus herab: «Sage dem Jünger und dem Räuber, daß die beiden ihre frommen Werke noch einmal von vorn beginnen müssen. Denn alles, was der Räuber früher verbrochen hat, habe ich ihm vergeben, weil er bereute und Buße tat, und alle vorhergegangenen frommen Werke des Jüngers haben ihren Wert verloren, weil er stolz über sich selbst war und den Bußfertigen verachtete.»[ 91 ]
Das Ethos des frühislamischen Jesusbildes, das die Sufis auch dem islamischen Propheten selbst zuschrieben (Mohammed «vergilt nicht Böses mit Bösem, sondern ist versöhnlich und verzeihend»)[ 92 ] zieht sich durch alle Epen Attars. Im «Buch der Leiden» wird al-Dschunayd der einzige Besitz gestohlen: ein Hemd. Der Dieb gibt es einem Händler zum Verkauf. Ein Kunde will das Hemd kaufen, vorausgesetzt er findet jemanden, der es kennt und die Rechtmäßigkeit der Ware bezeugen kann. Al-Dschunayd kommt des Weges, bemerkt, was vor sich geht, und versichert dem Kunden, das Hemd zu kennen, er möge es bedenkenlos kaufen (18/4, 191f.). Im «Buch Gottes» wird Jesus von Juden mit Schimpfwörtern überhäuft und bittet bei Gott dennoch um Gutes für sie. Als man ihn nach dem Grund fragt, antwortet er:
– Jedes Herz gibt von dem, was es hat.[ 93 ]
In den «Vogelgesprächen» befiehlt der tödlich verwundete Imam Ali, das Getränk, das man ihm reicht, zunächst seinem Mörder darzureichen.[ 94 ]
In den «Vogelgesprächen» wie im «Buch Gottes» stellt Attar seine Idee der Barmherzigkeit häufiger auch am Beispiel Gottes dar. Dabei bezieht er sich auf die Verheißung der Sure 39,54:
Du sprich: Ihr meine Knechte, die ihr
Euch übernahmt an euren Seelen,
Verzweifelt nicht an Gottes Gnade! Gott verzeiht
Die Vergehungen alle,
Er ist der Gnädige, der Verzeiher.
In diesen beiden Epen gehört es zu den wiederkehrenden Motiven, daß Gott die Sünder geradezu sucht, nur um ihnen verzeihen zu können, das Hadith variierend: «Wenn ihr nicht sündigen würdet, würde Gott euch fortschaffen und Leute herbeibringen, die Sünde tun, damit Er ihnen vergeben kann.»[ 95 ] In den «Vogelgesprächen» berichtet Attar, wie ein Mann in Bagdad Honig feilbietet:
– Habe Honig und verkaufe ihn billig!
– Verkaufst du ihn auch umsonst? fragt ihn ein Sufi.
– Du bist wohl übergeschnappt.
Da ruft Gott dem Sufi zu:
– Komm in Unseren Laden! Bei Uns bekommst du alles umsonst, und wenn du noch mehr willst, bekommst du es auch.[ 96 ]
Gott erscheint in den «Vogelgesprächen» immer wieder als Vorbild: Ein frommer Asket begegnet dem Leichenzug eines Sünders und biegt vom Weg ab, um nicht das Totengebet über ihn sprechen zu müssen. Daraufhin sieht er den Verstorbenen im nächtlichen Traum im Paradies wandeln.
– Wie hast du es dorthin gebracht? fragt der Asket den Sünder.
– Weil du so unbarmherzig warst, hat Gott seine Barmherzigkeit um so sichtbarer gemacht.[ 97 ]
Im «Buch der Leiden» hingegen verzeiht Gott nur selten, so wenn er Dhu n-Nun (gest. 859) aussprechen läßt, daß am Rande des göttlichen Ruhmesteppichs alle Sünde im Himmel und auf Erden verschwinde (34/7, 308). Gott wird zwar nicht durchgängig in dunklen Farben gezeichnet, aber anders als etwa in der eben erzählten Anekdote aus den «Vogelgesprächen» steht die göttliche Güte im «Buch der Leiden», wenn sie
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