Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
Vom Netzwerk:
Montag, den 15. Juni 1964 standen Heiner und Lena um sechs Uhr morgens auf dem Frankfurter Hauptbahnhof. Fünf mal am Tag fuhren Züge nach Wien und von Wien nach Frankfurt – zehn Stunden von Stadt zu Stadt. Noch sieben Minuten, sagte Heiner und nahm Lena zum ersten Mal in den Arm und sie küsste ihn nicht wie einen Schützling, der mit ihr lernte, durch eine deutsche Stadt zu gehen. Als die Lautsprecherstimme sagte, der Zug verspäte sich um zwanzig Minuten, blieben sie einfach stehen, umschlungen wie aneinandergeklebt. Und als es hieß, der Zug führe heute nicht auf Gleis neun, sondern auf Gleis zwölf ein, rührten sie sich nicht von der Stelle. Die Stimme aus dem Lautsprecher sagte: Zurücktreten, Türen schließen. Sie gaben Heiners Koffer auf und fuhren mit dem Taxi zu Lenas Wohnung. Heiner sagte: Jeder weiß, dass er sterben muss und vergisst es wieder und vertrödelt seine Zeit auf der Erde. Der Tod ist mein Schatten, er begleitet mich wie ein leichter Kopfschmerz. Er ist da, um zu sagen: Vergiss nicht die Kostbarkeit des Augenblicks. Mit diesem Wissen liebte Heiner Lena bis zur Abfahrt des Nachtzugs. Mein Schatz, schrieb er aus Wien, ich weiß nicht, ob wir eine Zukunft haben. Um ehrlich zu sein: Ich bin ein Wrack. Ich habe Fleckfieber, Typhus und Tuberkulose überlebt. Ich leide unter akuten Erschöpfungszuständen und chronischer Bronchitis. Ich habe Durchblutungsstörungen. Ich bin fünfundvierzig Jahre alt und hatte einen Herzinfarkt. Ich war schon mit vierzig, als Geschäftsführer einer Druckerei in Wien, häufiger krank als die Arbeiter an den Maschinen. Als meine Krankheiten länger dauerten als der Urlaub und ich mich auch im Urlaub nicht erholte, wurde ich entlassen. Ich habe mich zum Berufsschullehrer ausbilden lassen, unterrichtete Druckerlehrlinge und fühlte mich nach drei Doppelstunden wie ausgewrungen.
    Weißt Du, was ein Wrack ist, schrieb Lena. Ein Wrack ist ein ›herumtreibender Gegenstand‹, unbrauchbar geworden durch Verfall oder Beschädigung. Um Verfall handelt es sich nicht bei Dir.
    Geliebter Schatz, schrieb Heiner, es gibt Tage, an denen möchte ich nicht mit mir befreundet sein. Mir steckt das Lager in jedem Körperteil und die Forschung arbeitet, so viel ich weiß, nicht an einem Gegengift. Es gibt Nächte, in denen ich nicht schlafe und Nächte, in denen ich schreie. Es gab eine Frau, die das nicht ertragen hat und ein Kind, das nicht mehr nach mir fragt. Sie haben mich weggeschickt. Ich habe das knapp überlebt, für ein zweites Mal wird die Kraft nicht reichen.
    Das Gift muss nicht erfunden werden, schrieb Lena. Es hat fünf Buchstaben, Du hast es kennen gelernt und es ging Dir gut danach.
    Bevor wir Pläne schmieden, schrieb er, muss ich Dir zeigen, was zu mir gehört wie mein Kopf und mein Herz. Kann sein, dass Du es in einer Wohnung, in der wir zusammen leben, nicht ertragen willst.
    Seine Briefe waren zärtlich und scheu. Er warnte vor sich. Er war versessen nach Glück und hatte Angst vor dem Glück.
    Lena packte ihre Tasche und fuhr ohne Ankündigung nach Wien. Sie ließ sich mit dem Taxi in den 20. Bezirk fahren, Rauscherstraße 37 stand auf den Briefumschlägen. Um drei Uhr nachmittags stand sie mit Herzklopfen vor einem morbiden Jugendstilhaus. Seine Initialen, HR, fand sie neben einem Klingelknopf aus Messing. Sie hatte im Zug nicht gelesen und nicht geschlafen. Was wollte er ihr zeigen? Was war so wichtig wie sein Herz und sein Kopf? Was kann so zwingend zu einem Menschen gehören, dass man davor warnen muss. Sie legte den Finger auf die Klingel. Was würde sie in einer gemeinsamen Wohnung nicht ertragen wollen? Eine kranke Mutter? Hatte er Katzen, Hunde, Vögel, Giftschlangen? Lena zog den Finger zurück. Sie sah an der Fassade hoch, er wohnte im dritten Stock und musste einen schönen Blick in den Augarten haben. Sie hatte den Klang seiner Stimme im Kopf. Mein geliebter Schatz …
    Schatz war ihr ein vertrautes Wort. Sie wusste, dass man es nicht gedankenlos vergeben darf. Der Vater hatte ihre Mutter Schatz genannt, weil sie das Wertvollste in seinem Leben war. In der Bibel steht: Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Für Lena war ›Schatz‹ ein Schlüssel. Er passte zu einer Wohnung in Danzig, in der es im Arbeitszimmer des Vaters einen Familienschatz gab, Lenas Erbe. In Zürich passte der Schlüssel zum Geheimfach im Sekretär ihres Vaters. Lenas Schatz war das Tagebuch der Großmutter ihrer Ur-Urgroßmutter Franziska, geboren in der Freien Stadt

Weitere Kostenlose Bücher