Der Schrecken verliert sich vor Ort
Danzig, die damals zum Königreich Preußen gehörte. 1813, Franziska war elf Jahre alt, wurde Danzig von französisch-polnischen Truppen angegriffen und elf Monate belagert. In ihrem Tagebuch beschrieb das Mädchen die Panik, die ausbrach, als vierzigtausend französische Soldaten über die Stadt herfielen. Sie plünderten die Läden, brannten Häuser nieder, verwüsteten Kirchen. Die Straßen waren voller Abfälle und Kot. ›Alle haben Stubenarrest‹, schrieb das Mädchen in sein Tagebuch. ›Es gipt Brod und ekligen Dosenfisch. Ich habe meine Puppe im Schuhschranck versteggt. Mamas Schmuck liegt im Honigtopf. Papa sagt, wir schlagen die feigen Franzmänner in die Flucht. Wir haben Ankst‹.
Als die Franzosen einem Heer aus Russen und Preußen weichen mussten, schrieb Franziska: ›Papa sagt: Hurra, wir sind wieder Preußen!‹
Achtzehn Jahre später, da war sie neunundzwanzig, schrieb sie ihrem in Wien stationierten Mann: ›Sie haben eine Zählung gemacht. Sechsundsiebzig Prozent der Danziger sprechen Deutsch und nur vierundzwanzig Prozent Polnisch. Danzig ist eine deutsche Stadt. Jetzt ist es amtlich.‹
Beinahe hundert Jahre später gaben fünfundneunzig Prozent der Danziger Bürger Deutsch als Muttersprache an und Lenas Vater feierte mit Freunden eine Orgie, über die man in der Verwandtschaft noch sprach, als Lena in Zürich Abitur machte. Sie fand ihre Familiengeschichte interessant und merkwürdig. In Danzig geboren, Polen als Nachbarn, Polen als Freunde aber keine polnische Verwandtschaft. Als Hitler Polen überfiel, gingen Lenas Eltern in die Schweiz. Wir sind Preußen, sagte der Vater, Nazis sind wir nicht. Lena war damals sechs und bekam vor Kummer eine Krankheit, die der Vater ›Bösigkeit‹ nannte. Sie schlug um sich, wenn man sie anfassen wollte. Das Essen spuckte sie den Eltern ins Gesicht oder an die Wand. Sie hatte ihre Freundinnen verloren, zwei Opas und zwei Omas, Onkel, Tanten, Nichten und Neffen, man hatte ihr die ganze schöne Stadt weggenommen. Das Meer und den Hafen. Lena rief stundenlang herzzerreißend den Namen ihres Kindermädchens: OlgaOlgaOlga. Olga hatte polnische Lieder mit ihr gesungen und ihr Eichendorffs Danzig-Gedicht so oft vorgelesen, dass beide es auswendig kannten: Dunkle Giebel, hohe Fenster, Türme tief aus Nebeln sehn. Bleiche Statuen wie Gespenster lautlos an den Türen stehn. Lena liebte das Gedicht, weil es unheimlich war, wenn Türme tief aus Nebeln sehen und gruselig, wenn sie sich vorstellte, dass bleiche Statuen lautlos an den Türen stehen, wo sie doch nicht einmal wusste, was eine Statue ist. Olga wusste, ob Statuen etwas Gutes oder etwas Böses waren und was es bedeutete, wenn sie bleich und lautlos an den Türen standen. Sind sie dann krank oder tot? Weder noch, sagte Olga, sie sind nur alt. Olga ging schon ein Jahr zur Universität, für Lena war sie die schönste und klügste Spielgefährtin. Sie hatte schwarze Augen und war weich und rund wie ihr Teddybär. Betreuerinnen aus der Schweiz hielten es keine Woche mit Lena aus. Sie biss ihnen in die Hände wie ein tollwütiger Hund.
Sie lernte Schwyzerdütsch und Französisch und zur Belohnung schenkte ihr der Vater polnische Stunden, Unterricht am Sonntagmorgen von elf bis eins, das machte das von ›Bösigkeit‹ befallene Kind wieder sanft. Die väterliche Weisheit bestimmte ihren Weg. Ohne Polnisch keine Reisen durch Polen. Ohne Polnisch kein Dolmetscherdiplom. Ohne Diplom keine Anstellung beim Schwurgericht in Frankfurt am Main. Ohne Anstellung keinen Gang über einen Flur im Stadtteil Gallus, auf dem am 5. Juni 1964 am 52. Verhandlungstag der Zeuge aus Wien kalkweiß und mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte.
Lena nahm den Finger von der Klingel, sie beschloss, auf einer Bank im Augarten darüber nachzudenken, ob es gut sei, einen Menschen unverhofft zu überfallen. Heiners Gesicht – mit welchem Ausdruck würde es sie empfangen, wenn sie plötzlich vor der Tür stünde. Mit dem erschöpften Gesicht, das sie vom Gerichtsflur kannte oder mit dem lachenden, verschmitzten, mit dem er im Café seine Vernehmung karikierte. Sie kannte das Gesicht, mit dem er sie geliebt hatte und das einsame Gesicht beim Abschied hinter dem Zugfenster. Wurde er zornig, wenn jemand seinen Tagesplan störte? Er hatte keine Chance, sich zu verstellen, wenn sie ihn überfiel, keine Gelegenheit, wenn er sich schon nicht freute, wenigsten höflich zu sein. Er würde ihr das einzige Gesicht zeigen, über das er in der
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