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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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er erschlagen worden? Wenn Sie für einen, den Sie kennen, wenn Sie für einen Freund die Todesursache erfinden müssen – das ist eine schlimme Sache.
    Hohes Gericht!
    Die Totenbücher des Häftlingskrankenbaus im Stammlager sind erhalten geblieben. 130.000 Nummern vom Sommer ’42 bis Sommer ’44. Sie glauben nicht, woran sich der Mensch gewöhnen kann. Wir haben neben halb verfaulten Menschen unser Brot gegessen. Wir haben uns unterhalten. Manchmal haben wir Witze gemacht und gelacht.
    Nun zu Klehr. Mir ist, als hätte ich ihn täglich gesehen. Wenn Klehr Selektionen machte, mussten die Häftlinge aus dem Krankenbau nackt im Korridor antreten, jeder mit seiner Ambulanzkarte in der Hand. Die Karten wurden Klehr auf den Tisch gelegt. Er rauchte Pfeife und deutete mit dem Mundstück auf die Kranken: Vortreten! Du und du und du und du. Klehr nimmt die erste Karte in die Hand. Er hat Zeit. Er sieht die Karten an. Die Eintragungen verraten ihm, wie lange der nackte Mensch, der vor ihm steht, im Krankenbau ist. Er nimmt einen Zug aus der Pfeife. Schon vierzehn Tage! Er legt die Karte beiseite, nimmt die nächste, schüttelt den Kopf. Erst zwei Tage im Krankenbau und schon ein Muselman! Er legt die Karte beiseite. Mehr als vierzehn Tage Krankenbau hat keiner überlebt. Bei allen Selektionen saß im Korridor einer von uns Schreibern. Klehr sagte die Nummern an, wir schrieben sie auf. Es waren die Nummern der Menschen, die er zum Tode bestimmt hatte. Die Menschen lebten noch, da haben wir schon die Totenmeldungen in die Maschinen gehackt. Gestorben am Herzinfarkt, gestorben an Phlegmonen, Lungenentzündung, Nierenversagen, Fleckfieber, Typhus, Embolie, Influenza, Kreislaufkollaps … Alle, deren Karte wir aussortiert hatten, wurden abgeholt und zu ihm auf Block 20 gebracht.
    Hohes Gericht, auf Block 20 hat Klehr den Ausgesonderten Phenol ins Herz gespritzt. Er brachte sie im ›Verbandszimmer‹ um, das war der Raum hinter dem Vorhang. Dort stand ein kleines Tischchen mit der Spritze und dem Phenol. Daneben stand ein Stuhl, auf den sich das Opfer setzten musste. Die meisten waren schwach und im Kopf so mürbe, dass sie sich still umbringen ließen. Aber einmal war ich dabei, als ein Mann laut schrie und um sein Leben bettelte und sein Herz mit beiden Händen beschützen wollte. Da befahl Klehr seinen Gehilfen, das waren Häftlinge wie wir, dem Mann die Arme zu verdrehen, so dass der rechte auf dem Rücken lag und der linke vor den Mund gepresst werden konnte. Dann war es still. Die Gegend um das Herz herum lag frei.
    Einmal musste ich im Block 20 eine Meldung abgeben. Der Vorhang vor dem ›Verbandszimmer‹ war nicht zugezogen. Ich sah den Klehr mit der Spritze in der Hand. Er sah mir in die Augen, genervt, als hätte ich beim Frühstück gestört. Er hob die Spritze und schnauzte mich an. Hau ab – oder willst du auch eine?
    Vor Klehr hatten wir diese wahnsinnige Angst, weil er keine Wut auf uns hatte. Er tötete mit leichter Hand und ohne Hass.
    Hohes Gericht!
    Die Täter waren nicht krank im Kopf, nicht verrückter als Sie und ich. Ohne den mörderischen Tummelplatz in Polen, wenn ich das mal so sagen darf, wäre Klehr Tischler geblieben und Kaduk Krankenpfleger. Oder Feuerwehrmann. Dirlewanger Jurist, der fette Jupp ein tumber Gangster, Palitzsch, wäre er nicht im Krieg gefallen, Polizeipräsident oder Minister und Boger Abteilungsleiter bei der örtlichen Krankenkasse. Oder Studienrat mit heimlich-geiler Lust beim Abstrafen der Kinder. Er hätte die Bogerschaukel nicht gebaut. Die Täter, Hohes Gericht, waren jung und ehrgeizig. Sie wollten ihre Sache gut machen, welche Sache, war egal. Sie verhielten sich wie Angestellte, sie waren hungrig nach Lob und Karriere. Das Gefährlichste ist nicht der Sadist. Das Gefährlichste ist der normale Mensch.
    Hohes Gericht, sollten wir uns eines Tages an einem solchen Ort begegnen, werde ich in der Kolonne der Häftlinge stehen. Sie wissen nicht, wo Sie dann stehen, das habe ich Ihnen voraus.
    An dieser Stelle machte Heiner eine Pause, um die Sätze loszuwerden, die ihn um den Verstand hätten bringen können. Er sprach sie sehr langsam mit großen Pausen. Das Ende der Ballade.
    Hohes Gericht. Sie hören unsere Geschichten. Sie protokollieren sie. Sie erreichen Ihren Verstand. Sie erreichen Ihre Intelligenz. Vielleicht Ihre Phantasie. Dennoch sind Sie uns keinen Millimeter näher als vor dem Prozess. Zwischen Ihren Vorstellungen und unseren Erfahrungen verkehrt kein Zug.

Am

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