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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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sich zur Großmutter seiner Freundin durch, die in einem Gartenhaus am Stadtrand lebte. Leszek ging die Freunde seiner Eltern durch, zu denen sie keinen Kontakt mehr hatten. Sein Kopf dröhnte, seine Ohren bluteten. Er kannte keine Freunde mit Gartenhaus, seine Großmutter lebte in Lodz, er hatte nur eine Tante, die fromme Zofia, die Orgel spielte und in der Kirche sang. Einmal hat er ihr Blumen bringen müssen und Schokolade mit Nüssen geschenkt bekommen – da war er zehn und die Tante kam ihm vor wie die Fee aus einem Märchenbuch. Sie hatte lange, blonde Haare und war anders angezogen als die Frauen, die er kannte. Er erinnerte sich an ein buntes Kleid, das bis zum Boden reichte. Sie gehörte nicht zum engen Familienkreis, man nannte sie versponnen, sie lebte in einer Erdgeschosswohnung in der Szerokastraße, dort würden ihn nicht einmal seine Eltern suchen.
    Die Litanei im Nebenzimmer hörte sich jetzt wie das satte Lallen eines Säuglings an.
    Wer ist das, fragte Lena.
    Tante Zofia, sagte Leszek, um sie geht es. Meine Geschichte ist nicht wichtig. Er legte sich die Hand auf die Schiebermütze. Ich kann mit dem deutschen Souvenir unter der Mütze ganz gut leben.
    Zofia hatte die verstauchten Gelenke des Jungen eingerieben, auf die blutenden Knie Pflaster geklebt, das geschwollene Gesicht gekühlt, Kopf und Ohren untersucht, dem Neffen heiße Schokolade gekocht. Mit strengen Anweisungen schickte sie ihn ins Gartenzimmer. Jeder Satz war ein Befehl. Aufs Sofa mit dir! Schlaf, wenn du kannst! Die Tür bleibt auf! Nichts ausziehen! Behalt die Schuhe an! Wenn ich ›Achtung‹ rufe, saust du in den Garten wie eine deutsche Granate! Verstanden? Er schlief sofort ein. Er sah nicht, dass seine schöne Tante viele Stunden im dunklen Wohnzimmer stand und die Straße beobachtete. Als sich im Morgengrauen der Wagen näherte, den sie erwartet hatte, schrie sie: Achtung und Leszek sprang in den Garten. Zofia wurde fünf Wochen verhört und dann, wie es hieß, auf Transport geschickt. Den Namen des Lagers hatte sie noch nie gehört: Auschwitz. Ein Arbeitslager, dachte sie, jede Arbeit ist besser als Gestapoverhöre in der Pomorskistraße.
    Alle hatten sich in Zofia getäuscht. Leszeks Vater, seine Mutter; für alle in der Familie war sie die fromme Tante am anderen Ende der Stadt, hübsch und verrückt, ein bisschen jenseitig für ihr Alter. Niemand wusste, ob es einen Mann in ihrem Leben gab. Niemand wusste, dass sie vom ersten Kriegstag an zum Widerstand gehörte. Sie hätte den Jungen, der vor ihrer Tür stand, fortschicken müssen. Er war der Wegweiser, auf den die Nazis gewartet hatten.
    Dass Tante Zofia im Zimmer neben der Besenkammer wohnte, hatte Lena verstanden. Sie horchte angestrengt, hörte aber nichts mehr. Heiner steckte sich eine Zigarette an, Leszek stellte Kaffeewasser auf und sagte: Lena, ich sehe nicht, dass dein Teller leerer wird.
    Zofia hatte Glück. Sie war zart, aber nicht schwach. Sie wurde nicht gleich auf der Rampe ›Zum Duschen‹ geschickt, sie bekam eine Nummer und musste ins Stammlager zur Arbeit marschieren. Im Lager ging sie an den Sonntagen, die sie frei hatten, mit Leszek und Heiner auf der Lagerstraße spazieren. Heiner verliebte sich in die Frau, die auch abgemagert und kahlgeschoren wie eine Zauberfee aussah. Dann kam der Tag, an dem vier Frauen öffentlich verprügelt wurden. Meine arme, arme Zofia. Ihre dünnen Arme, der magere Rücken. Schlimmer als Schläge ist das Zuschauen, wenn geschlagen wird. Später wurde Leszeks Tante in Birkenau einem Arbeitskommando zugeteilt, in dem auch eine zähe Person keine zwei Wochen überleben konnte. Zwanzig Frauen schaufelten vierzehn Stunden am Tag Kies aus der eiskalten Sola. Oft standen sie bis zu den Hüften im Wasser und der Kapo hetzte: Schneller, schneller, dalli, dalli. Sie wurden geschlagen. Nachts wurden sie von Flöhen gebissen und konnten nicht schlafen. Jeden Morgen gab es Frauen, die nicht mehr aus dem Bett geprügelt werden konnten, weil sie in der Nacht verhungert waren.
    Als an einem nebligen Spätnachmittag eine Gefangene aus diesem Arbeitskommando verschwand, wurden alle Frauen in die Strafkompanie versetzt. Auch die Arbeit im Steinbruch war ein Todesurteil. Frauen, die unter dem Gewicht der Steine zusammenbrachen, wurden erschlagen, während der Kapo brüllte: Dies ist kein Sanatorium, dies ist eine deutsche Strafkompanie. Er zeigte mit der Peitsche auf einzelne Frauen: Wo sind wir hier? Wehe der armen polnischen, russischen,

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