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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Sand und verrosteten Rutschen. Als hätten sie auf Leszek gewartet, standen in jedem Block zwei, drei Menschen am offenen Fenster und winkten. Denk an die Himbeermarmelade, riefen sie, die Winterstiefel sind gekommen. Leszek, riefen sie, das Fahrrad ist da, die Wolle hat meine Mutter. In der Siedlung wurden Eier gegen Mohrrüben getauscht, Nylonstrümpfe gegen Dosenwurst, ein warmer Mantel gegen eine halbe Gans. Leszek hatte durch die Pakete aus Deutschland ein neues Sortiment bekommen. Den höchsten Tauschwert hatten Medikamente. Hals- und Grippetabletten, Hustensaft, Aspirin und Voltaren, Wundsalbe, Augentropfen und Pflaster in allen Größen. Zucker war wichtig. Ohne Zucker kein Schnaps. Sie tauschten Autoreifen gegen Radios, Bücher gegen selbstgestrickte Pullover. Der wahre Wert der Dinge ergab sich ganz natürlich aus Mangel und Überschuss. Privaten sozialistischen Kapitalismus nannte Leszek das System und Polen den größten Secondhandladen der Welt.
    Sein Garten war eine Anbaufläche für Bohnen und Kartoffeln, Zwiebeln und Kohlrabi. Am Ende des Grundstücks stand der Hühnerstall. Leszek legte sechs Eier in eine Schale und bat Lena, sie der alten Katarzyna zu bringen, die in einer windschiefen Hütte im Nachbargarten aus dem Fenster schaute. Ein buntes Kopftuch, tausend tiefe Falten und listige Augen. Für die Eier pumpte sich Leszek aus ihrem sechzig Meter tiefen Brunnen einen Kanister frisches Wasser. Es war kalt und schmeckte nach Eisen.
    Leszek hatte eine Dose Wurst auf den Gartentisch gestellt, eine Flasche Wodka und drei Gläser. Die Sonne schien, er hatte die Hängematte zwischen zwei Apfelbäume gehängt. Zu Lena sagte er: Steig ein. Sie sah in den Himmel, ließ sich von Leszek schaukeln und sagte: Ich höre Hühner gackern und irgendwo grunzt eine Sau. Kriegsrecht habe ich mir anders vorgestellt.
    Es umgibt dich.
    Wo?
    Siehst du den Mann dort auf dem Dach?
    Den Dachdecker?
    Beschreib ihn mir.
    Mittelgroß, sagte Lena. Stämmig. Rundes Gesicht, kurze Haare. Er trägt ein gelb-grün kariertes Hemd und eine braune Cordhose. Er hat Stiefel an und in der Hand einen Hammer, mit dem er Nägel in die Dachpappe schlägt.
    Das ist Edward, sagte Leszek, ein Spitzel der Partei. Der Dachdecker ist ein Scheindachdecker.
    Sieht man, sagte Heiner.
    Was seht ihr denn, was ich nicht sehe?
    Er schlägt zu viele Nägel in die Pappe, sagte Leszek. Er schaut zu oft in unsere Richtung. Er beobachtet uns. Ich habe ein grundsolides Gefühl für falsche Natürlichkeit. Der Dachdeckerdarsteller meldet heute Abend: Leszek hat Besuch aus dem Ausland.
    Kann er dir schaden, fragte Lena, gefährden wir dich?
    Eure Tour interessiert hier niemanden, sagte Leszek, und mich halten sie für den harmlosen Lagertrottel mit einem Andenken aus Auschwitz unter der Mütze.
    Bist du ein harmloser Lagertrottel?
    Leszek lachte. Find es heraus.
    Heiner sagte: Im Lager haben wir Verräter erschlagen.
    Es war nach Mitternacht, als sie sich auf die Matratze legten und Heiner die Arme um Lena schlang. Sie hörten Zofia, sie verstanden die Worte. Seit sie den Text kannten, konnten sie sich kein Vaterunser mehr vorstellen. Lena flüsterte: Ich sehe den Steinbruch, was siehst du?
    Den Prügelbock.
    Hast du sie geliebt?
    So würde ich das nicht nennen.
    Wie denn?
    Sie war die Zauberfee, die uns erinnerte, dass es in Menschen zärtliche Gefühle gibt.
    Die Sätze, die sie murmelt, wurden die gebrüllt, geschnauzt oder gezischt?
    Gebrüllt.
    Wie erträgst du ihr Murmeln?
    Ich denke an einen Walzer aus Wien.
    Du tanzt mit ihr?
    Sie spürte, dass er nickte.
    Der Text ist ein Bandwurm, sagte Lena, er hat sich in mein Hirn gefressen. Ich muss auch etwas erfinden, sonst werde ich krank. Weißt du, was ich möchte?
    Sag es.
    Ich möchte einen Vers machen, den ich wie ein Mantra benutzen kann. Was reimt sich auf Sanatorium?
    Krematorium.
    Gute Idee! Was noch?
    Memorium. Moratorium. Konservatorium. Oratorium. Bariton. Luftballon. Marathon.
    Oratorium ist schön, sagte Lena. Stell dir vor, Zofia murmelt: Dies ist ein Oratorium. Es singt ein tiefer Bariton, aber was reimt sich auf Strafkompanie?
    Diphtherie, schlug Heiner vor. Biografie. Demokratie. Phantasie. Prüderie. Sellerie.
    Das Murmeln war lauter geworden. Ich dichte es um, sagte Lena, ich halt es nicht aus, hör zu: Dies ist ein Oratorium, dazu singt ein tiefer Bariton. Am Himmel schwebt ein roter Luftballon.
    Und zu einer guten Demokratie gehört Sellerie, sagte Heiner.
    Ich stelle mir einen friedlichen

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